Es sollte eigentlich ein ganz normales Abendessen werden. Wir hatten beide ziemlich Hunger und so bestellten wir eine Vor- und eine Hauptspeise. Ich saß mit dem Rücken zum Rest des Raumes. Hinter mir gab es mehrere freie Tische, als wir ankamen. Für den Rest des Abends drehte ich mich nicht einmal um und ignorierte die anderen Gäste mehr oder weniger. Das war ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte, denn dann wüsste ich jetzt wenigstens, wie die Frau aussah, die am Tisch schräg hinter mir saß.
Rechnung über 70 Euro
Wir hatten zwei der teuersten Gerichte auf der Karte bestellt: Muscheln und Bœuf bourguignon. Außerdem hatten wir jeweils eine Vorspeise und mehrere Getränke, denn der Hauptgang ließ ein bisschen auf sich warten. Rund 70 Euro hätte alles zusammen wohl gekostet.
Ich schreibe „hätte“, denn kaum hatten wir das Hauptgericht zu Ende gegessen, trat der Kellner sichtlich nervös an unseren Tisch. Er müsse uns etwas sagen, fing er an. „Ihr Essen ist bereits bezahlt worden“, fuhr er fort. Eine Frau, die schräg hinter mir gesessen hatte, habe die Rechnung beglichen, aber um Diskretion gebeten. Er solle uns erst etwas sagen, wenn sie das Restaurant verlassen habe.
Bereits bezahlt
„Warum?“, platzte es aus mir heraus. Vermutlich hätte das der Moment sein müssen, in dem ich mich freuen sollte, dass die Unbekannte die Rechnung übernommen hatte. Aber ich sage es gleich: ich freute mich gar nicht, sondern war extrem irritiert. Meiner Begleitung ging es ähnlich.
Der Kellner wusste darauf auch keine Antwort, bestätigte uns nur, er fände es ebenfalls merkwürdig. So etwas sei ihm in seiner Zeit als Kellner noch nie passiert. Der Mann war Mitte 40 und kellnerte nicht erst seit gestern.
Und ich gebe zu, mein erster Gedanke war, da hatte jemand Mitleid mit uns – einer Rollstuhlfahrerin und einem Mann mit Blindenführhund – und hat uns das Essen deshalb bezahlt. „Hat die etwa geglaubt, wir könnten uns das Essen nicht leisten?“, fuhr es aus mir heraus. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wir konnten sie nicht fragen. Sie war ja nicht mehr da.
Wir diskutierten dann den Rest des Abends darüber, warum jemand uns das Essen bezahlte, ohne uns zu fragen, ob wir das wollen, und uns auch nicht den Hauch einer Gelegenheit gab, uns wenigstens zu bedanken. Wollte jemand einfach nur nett sein? Fand die Frau uns sympathisch? Hatte sie im Lotto gewonnen (es war immerhin Samstag)? Und welche Rolle spielt es, dass ich Rollstuhlfahrerin bin und meine Begleitung blind?
Pay it forward
Ich verlagerte mein Erstaunen zu Facebook und schilderte dort, was mir passiert war. Während einige deutsche Freunde sagten, sie wären auch höchst irritiert, wenn ihnen so etwas passieren würde, klärten mich meine britischen Freunde darüber auf, dass es im Englischen sogar einen Begriff dafür gibt: pay it forward nämlich, und dass das gar nicht so selten vorkommt. Eine andere Freundin berichtete mir, ihr sei in den USA genau das Gleiche passiert.
Und tatsächlich, wenn man nach dem Begriff googelt, findet man viele nette Geschichten darüber, wie Menschen Restaurantrechnungen für andere begleichen – und keineswegs nur, um zu flirten.
Also vielleicht doch kein Mitleid? Vielleicht war es einfach nur jemand, der uns nett fand? Ein Freund brachte es dann ganz treffend auf den Punkt: „Man darf sich ruhig auch mal über Großzügigkeit anderer freuen. Selbst wenn man behindert ist.“