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Alles wie gehabt – der Bundestag debattiert zum Behindertengleichstellungsgesetz

 

Die Bundesregierung will das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz modernisieren. Was sich erst einmal prima anhört, hat einen Haken: Auch nach der Reform wird sich für behinderte Menschen kaum etwas ändern. Denn das Gesetz verpflichtet lediglich den Staat zur Barrierefreiheit, genauer gesagt den Bund, nicht aber die Wirtschaft. Jetzt wurde die Modernisierung des Gesetzes im Bundestag diskutiert. Ich kam mir vor, als sei ich in eine Zeitmaschine gestiegen und hätte 1990 als Zielzeit eingegeben. Die Debatte wirkte mehr als weltfremd. Die Regierung applaudierte sich für die kleinen Trippelschritte, die man in den letzten Jahrzehnten geschafft hat.

Bitte keine Kritik

Die Opposition kritisierte die Gesetzesänderung als nicht weitreichend genug. Sowohl Abgeordnete der Grünen als auch der Linken forderten, die Privatwirtschaft ebenfalls zur Barrierefreiheit und angemessenen Vorkehrungen für behinderte Menschen zu verpflichten. Dafür fing sich die Linken-Abgeordnete Katrin Werner eine Belehrung ein: Es würde zu den „Gepflogenheiten des Hohen Hauses“ gehören, dass man in der Politik für Menschen mit Behinderungen versuchen würde, mit einer Sprache zu sprechen. Es solle ein „gemeinsames Interesse des Deutschen Bundestages“ deutlich werden, so der Abgeordnete Karl Schiewerling von der CDU.

Ja, vielleicht ist genau das das Problem: Jahrzehntelang haben alle so getan, als würden sie gemeinsam so viel Gutes für Behinderte tun. Es gab kaum wirklich Zank zwischen Regierung und Opposition, wenn es um behindertenpolitische Themen ging. Vielleicht auch, weil sie nicht so ernst genommen wurden und nicht en vogue waren. Aber das ändert sich gerade. Ganz Deutschland diskutiert über Inklusion. Die Petition zum Teilhabegesetz ist eine der erfolgreichsten deutschen Petitionen, die je auf Change.org angestoßen wurden. Es wird Zeit, dass Politiker um ihre Positionen streiten.

Aber früher war alles noch viel schlimmer

Während der Diskussion passierte dann noch etwas Klassisches: Keine Grundsatzdebatte zu Barrierefreiheit und Behinderung in Deutschland, ohne zu betonen, wie schlecht behinderte Menschen früher behandelt wurden und wie weit wir schon gekommen sind. Und das ausgerechnet in einem Land wie Deutschland, mit einer furchtbaren Geschichte in Bezug auf behinderte Menschen – es gibt kaum ein Argument, das mich mehr auf die Palme bringt.

Wer darauf herumreitet, wie schlimm früher alles war, will vertuschen, dass es im Bereich Barrierefreiheit und Inklusion so langsam vorangeht. Länder wie Großbritannien haben seit den 1990er Jahren umfassende Umbaumaßnahmen angestrengt, die man heute an jeder Straßenecke und in vielen Pubs sehen kann. Selbst in Österreich wird nun im Bestand umgebaut, ja, auch in der Privatwirtschaft. Aber die deutsche Regierung feiert sich dafür, dass Bundesgebäude barrierefrei werden sollen. Wann hatten Sie zuletzt mit einer Bundesbehörde zu tun? Man kann erahnen, welchen Einfluss diese Gesetzgebung auf das Alltagsleben behinderter Menschen hat. Der Lebensmittelpunkt eines Bürgers spielt sich selten in Bundesbehörden ab, wenn er nicht dort arbeitet.

Darüber hinaus ist die Argumentation, man sei schon weit gekommen und früher sei alles noch viel schlimmer gewesen, völlig unlogisch: Weil wir früher so böse waren, müssen wir heute weniger gut sein als andere ? Eine abenteuerliche Begründung! Behinderte Menschen werden weiter ausgegrenzt, gegen ihren Willen in Heimen untergebracht, haben einen schlechteren Zugang zu Bildung, um mal nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Es wäre die Aufgabe der Politik, das abzustellen und die Lebenssituation behinderter Menschen zu verbessern, anstatt Sonntagsreden zu halten.

Hilfsbereitschaft statt Gesetze

Apropos Sonntagsreden: Der Abgeordnete Schiewerling sprach in einer Debatte um Barrieren behinderter Menschen über die zu wenig beachtete Sonntagsruhe. Es gebe immer mehr behinderte Menschen, sagte er, vor allem solche mit psychischen Behinderungen. Da müsse man die Ursachen bekämpfen. Eine Ursache sah er darin, dass den Menschen Halt und Orientierung fehle und selbst der Sonntagsschutz wegfalle. Was das mit dem Behindertengleichstellungsgesetz zu tun hat, ließ er offen. Er hätte natürlich darüber sprechen können, welche Barrieren das Gesetz auch für diese Gruppe behinderter Menschen beseitigt (oder auch nicht). Aber warum konkret werden, wenn man auch über die Sonntagsruhe reden kann?

Die Abgeordnete Astrid Freudenstein (CSU) beendete die Debatte damit, statt Gesetzen und Barrierefreiheit Hilfsbereitschaft zu fordern, wenn jemand im Rollstuhl vor den Treppen eines Cafés stehe. Das hört sich toll an: Es kostet den Staat ja auch nichts, wenn die Bürger hilfsbereit sind. Aber einen 150 Kilogramm schweren E-Rollstuhl plus 100 Kilogramm schweren Besitzer bekommt man mit Hilfsbereitschaft nicht die Stufen hoch. Und auch eine Toilettentür wird nicht breiter, wenn mehrere hilfsbereite Menschen gerne helfen würden. Außerdem möchten die Menschen selbstbestimmt leben und eben nicht auf die Nettigkeit anderer Bürger angewiesen sein. Es ist auch unrealistisch, die Gesellschaft darauf aufzubauen, denn in der Praxis steht einfach niemand vor dem Café, der helfen kann, wenn man es braucht.

Es war eine ziemlich ernüchternde Debatte, die einem vor allem vor Augen führte, welche Einstellungen bei Parlamentariern noch vorhanden sind. „Die größten Barrieren sind in den Köpfen“, wurde mehrfach während der Debatte betont – auch so ein Spruch, mit dem man gut davon ablenken kann, was man baulich und organisatorisch seit Jahrzehnten versäumt. Aber vermutlich sind es zumindest in der Politik die Barrieren im Kopf, die seit Ewigkeiten den Weg zu einer teilhabefördernden Politik behindern.