Die Entscheidung der Briten, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu beenden, versetzt das Königreich in eine Art Schockzustand. Besonders geschockt sind nicht zuletzt behinderte Menschen, die sich darüber bewusst sind, welche Verbesserungen die EU in den vergangenen Jahren für sie erreicht hat. Aber nicht nur die Briten sind besorgt, die Behindertenpolitik der EU könnte sich verändern, wenn die Briten nicht mehr mitreden und Einfluss nehmen, denn mit den Briten wurde in den vergangenen Jahren einiges getan, um die Lebenssituation der rund 80 Millionen behinderten EU-Bürger zu verbessern.
Behindertenbewegung schwer getroffen
Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Europa sei schwer getroffen, meldete sich am Freitag bereits das Europäische Netzwerk Selbstbestimmt Leben (ENIL) zu Wort. Verbindungen zu Unterstützern und Politikern auf europäischer Ebene würden mit einem Brexit schwer beschädigt, sagte Miro Griffiths, Aktivist der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. „Behinderte Menschen in Großbritannien werden künftig zunehmend an den Rand gedrängt, da der Staat anfängt, soziale Rahmenbedingungen abzubauen und Unterstützungssysteme zu zerstören, die heute schon nicht die Bedürfnisse derer erfüllen, die sie brauchen“, sagte Griffiths. Die Mehrheit derer, die gewählt haben, hätte das einfach in Kauf genommen.
Der britische Staat hatte in den vergangenen Jahren bereits Sozialleistungen gekürzt, was nicht zuletzt behinderte Menschen stark getroffen hat. Allerdings schützte die europäische Gesetzgebung behinderte Menschen und ihre Angehörigen. So bekam beispielsweise die Mutter eines behinderten Kindes vor dem Europäischen Gerichtshof Recht, die von ihrem Arbeitgeber aufgrund der Behinderung ihres Sohnes benachteiligt wurde. Das britische Gesetz hatte bis dahin nur behinderte Menschen selbst vor Diskriminierung geschützt, nicht die indirekte Diskriminierung von Angehörigen.
„Von den europäischen Grundwerten wie Nicht-Diskriminierung, Menschenrechte und Freizügigkeit sollte jeder Mensch profitieren, auch behinderte Menschen in Großbritannien und ihre Angehörigen“, hieß es in einer Stellungnahme von ENIL weiter. Man hoffe, dass der Brexit eine konstruktive Debatte auslösen werde, die zu einem sozialeren Europa und einem positiven Einfluss auf Menschenrechte und die Lebensbedingungen führt. Man sei extrem besorgt darüber, dass behinderte Menschen in Großbritannien nach einem Brexit schlechter gestellt seien und durch weitere Einsparungen betroffen sein könnten.
Die Briten werden fehlen
Aber auch für behinderte Menschen in der EU bedeutet der Austritt Großbritanniens einen Rückschritt. Denn die Briten waren innerhalb der EU in vielen Bereichen Vorreiter, die behinderte Menschen betreffen. Sie setzten sich stark für EU-Verordnungen über die Rechte von behinderten Flugreisenden ein. Zudem arbeiten behinderte Menschen in einer Arbeitsgruppe mit der Luftfahrtbehörde zusammen. Diese Ergebnisse flossen bislang auch immer in die internationale Arbeit der Luftfahrtbehörde bei der EU ein.
Auch im Online-Bereich wird der Einfluss der Briten in Bezug auf Barrierefreiheit fehlen: Eric Eggert, Mitarbeiter des World Wide Web-Konsortiums, das sich unter anderem für ein barrierefreies Internet einsetzt und entsprechende Standards definiert, schrieb nach der Brexit-Entscheidung: „Dies ist auch ein großer Rückschritt für die Barrierefreiheitscommunity. Großbritannien war ein Vorbild für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Diese Unterstützung wird nun bei der Entwicklung europaweiter Regeln zur Barrierefreiheit fehlen.“
Auch bei der Ausbildung und Züchtung von Blindenführhunden und anderen Assistenzhunden sind die Briten führend. In keinem Land der EU gibt es mehr Blindenführhunde und in keinem Land werden sie besser ausgebildet. Die britische Blindenführhundorganisation Guide Dogs genießt weltweit hohes Ansehen und berät andere Organisationen und Führhundschulen in anderen Ländern.
Das sind nur einige wenige Beispiele, die zeigen, der EU-Austritt der Briten könnte den Bemühungen rund um Barrierefreiheit und Inklusion schaden, nicht nur den Briten selbst, sondern sie werden in europäischen Gremien und bei der Durchsetzung von Rechten auf EU-Ebene fehlen.