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Warum Sexualassistenz eine Scheinlösung ist

 

Pflegebedürftigen und behinderten Menschen soll eine so genannte Sexualassistenz finanziert werden. Das fordert zumindest die pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der  Grünen, Elisabeth Scharfenberg, in der Welt am Sonntag. „Eine Finanzierung für Sexualassistenz ist für mich vorstellbar“, sagte Scharfenberg. „Die Kommune könnte über entsprechende Angebote vor Ort beraten und Zuschüsse gewähren“, so die Politikerin.

In den Niederlande bereits umgesetzt

In den Niederlande ist das längst Realität. Sexualassistentinnen kommen zu Pflegebedürftigen und werden dafür bezahlt, mit den Menschen Zärtlichkeiten auszutauschen oder sogar mit ihnen Sex zu haben.

Auch wenn jetzt einige meinen, die Grünen hätten eine völlig neue Idee gehabt: Das stimmt nicht. Es gibt diese Forderung seit mindestens 15 Jahren innerhalb der Behindertenbewegung. Sie wird allerdings nicht von allen geteilt. Im Gegenteil, es gibt auch behinderte Menschen, die das Problem zwar auch sehen, aber die das für sich als Lösung ablehnen. Denn es wäre eine Scheinlösung für eine Herausforderung, die gesellschaftlich verursacht wurde und auch so gelöst werden muss.

Seit Jahren versucht der Staat Prostitution zu regulieren und einzudämmen, aber bei behinderten Menschen soll es dann okay sein, sogar eine Lösung und vom Staat gefördert werden? Ein klarer Fall von mit zweierlei Maß messen.

Ein ganz anderes Thema ist es, wenn Assistenten behinderten Menschen helfen, überhaupt Sex mit jemand anderem zu haben, sie in die richtige Position legen zum Beispiel, ihnen bei Ausziehen helfen. Das ist aber eigentlich eine Assistenzleistung, für die man nicht extra bezahlen muss. Darum geht es bei dem Begriff „Sexualassistenz“, der nicht geschützt ist, meistens nicht, sondern eigentlich geht es um körperliche Dienstleistungen wie sie eben auch Prostituierte anbieten.

Vor allem Bewohner von Einrichtungen betroffen

Dass vor allem Bewohner von Einrichtungen keinen Zugang zu Sex haben, ihnen Sexualität und Zärtlichkeit nicht möglich sind, hat viel mit den Strukturen der Einrichtungen zu tun. Es ist nun einmal nicht von der Hand zu weisen, dass Menschen in ihren eigenen vier Wänden und mit persönlicher Assistenz im Zweifelsfall besser und selbstbestimmter leben können. Zu Hause kann man die Privatsphäre besser schützen als in einer Einrichtung, die nach Dienstplan verfährt und wo Personal knapp und oft schlecht bezahlt ist.

Was ebenfalls sehr zu dieser Problematik beiträgt, ist die Tatsache, dass behinderte Menschen tendenziell weniger am sozialen Leben teilnehmen und deshalb schon weniger Möglichkeiten haben, einen geeigneten (Sexual-) Partner zu finden. Und da sind wir noch nicht bei den Vorurteilen, die behinderten Menschen immer noch entgegengebracht werden: Die können sowieso keinen Sex haben, wie soll das denn gehen? Etc.

Die Lösung heißt Teilhabe

Es geht darum, behinderten Menschen insgesamt die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, ihr Selbstvertrauen zu stärken, Möglichkeiten zu schaffen überhaupt jemand anderen kennenzulernen, selbstbewusst zu ihrem nicht perfekten Körper zu stehen. Das ist natürlich mehr Arbeit als einfach über die Krankenkasse oder die Kommunen einen spezialisierte Prostituierte zu bezahlen.

Außerdem glaube ich, die angedachten Lösung ist gar keine. Auch behinderte Menschen möchten sich ihre Sexualpartner aussuchen und wollen meist mehr als nur Sex, wie die meisten nichtbehinderte Menschen eben auch. Es sind auch keinesfalls nur behinderte und pflegebedürftige Menschen, die gegen ihren Willen keinen Sex haben. Ich glaube das eigentliche Tabuthema sind nichtbehinderte Menschen, die unfreiwillig seit Jahren keinen Sex haben, aus den unterschiedlichsten Gründen. Denen zahlt auch niemand den Gang zur Prostituierten und auch dort wäre das in vielen Fällen gar keine Lösung.

Strukturen verändern

Nun könnte man argumentieren, dass sich viele Nichtbehinderte den Gang zur Prostituierten wenigstens leisten können und behinderte Menschen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind. Aber dann muss man das ändern und nicht schon wieder aus jedem Problem eine Kassenleistung machen, nur weil es etwas mit behinderten Menschen zu tun hat.

Es ist doch überhaupt nicht mehr zeitgemäß, jedes einzelne Lebensbedürfnis bis zur kleinsten Schraube am Rollstuhl einzeln abzurechnen. Der Trend geht längst zu persönlichen Budgets. Die Lösung hier heißt Teilhabegeld, um gerade Menschen in Einrichtungen oder ohne eigenes Einkommen die finanziellen Möglichkeit zu geben, an der Gesellschaft teilzuhaben, rauszugehen, andere Menschen zu treffen. Wer einmal im Monat von einem Freiwilligen ins benachbarte Kino geschoben wird und das die einzige Aktivität außerhalb der Einrichtung ist, hat wenig Möglichkeiten, einen Partner oder eine Partnerin oder auch nur jemanden für einen One-Night-Stand zu treffen, wenn er oder sie nicht gerade im gleichen Heim wohnt. Die Strukturen, unter denen behinderte Menschen leben müssen, müssen verändert werden.

Dass einige behinderte und pflegebedürftige Menschen unfreiwillig keinen Sex (mehr) haben, ist ein Symptom für schlechte Unterbringungsstrukturen, wenig Selbstbestimmung behinderter Menschen und ein Mangel an Privatsphäre und Teilhabe. Das alles kann man nicht dadurch ausgleichen, in dem man Prostituierte in Heime schickt und sie dafür bezahlt. Da müssen schon mal die Strukturen insgesamt angeschaut und hinterfragt werden. Genau das wäre Aufgabe eine Oppositionspartei.