Nein, ich rede nicht von irgendwelchen Lauf-Apps und Marathon-Begeisterten, sondern vom ganz normalen Laufen. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendeine Zeitschrift, Zeitung oder ein Promi verkündet, wie furchtbar es ist, nicht laufen zu können. Es wird einfach als allgemein gültige Wahrheit vorausgesetzt.
Ich frage mich jedes Mal, von was die eigentlich reden und wer ihnen das gesagt hat. Für die meisten Menschen, die ich kenne, die wie ich ebenfalls nicht laufen können, ist das nicht furchtbar, sondern gehört zu unserem Leben wie für andere die Haarfarbe oder die sexuelle Orientierung.
Die Fifa hielt es für eine gute Idee, einen querschnittgelähmten Jungen in einem Exoskelett zum Start der Fußballweltmeisterschaft einen Fußball kicken zu lassen. Ein Exoskelett ist eine Art Ganzkörper-Korsett. Ein Computer misst die Hirnströme, so wird das Gerät angesteuert.
Ich lehne mich jetzt weit aus dem Fenster, man wird diesen Text vielleicht auch noch in zehn Jahren im Internet finden können, aber ich sage voraus: Das Ding wird sich nicht durchsetzen. Warum? Ganz einfach: Möchten Sie so rumlaufen? In einem Ganzkörper-Korsett? Also ich nicht. Also jedenfalls nicht, wenn die Alternative ein metallicfarbener, 8 Kilo leichter, leichtgängiger, auf mich angepasster Rollstuhl mit Vorderrädern ist, die beim Rollen bunt blitzen.
Mein Rollstuhl ist irre wendig, ich bin damit flott unterwegs und würde ihn niemals gegen so ein Ding eintauschen. Rollstühle sind heute Accessoires. Ich habe mir gerade ein neues Auto gekauft und bin gerade dabei, einen neuen Rollstuhl zu bestellen. Ich kann Ihnen sagen, es ist schwieriger das Zubehör für den Rollstuhl auszusuchen als für ein Auto. Rollstühle sind cool, Exoskelette sind es nicht. Und ja, es lebt sich ziemlich gut damit, nicht laufen zu können. Das sage nicht nur ich, sondern das ist sogar wissenschaftlich erforscht:
Schon 1973 stellten Forscher keinen Unterschied bei behinderten und nichtbehinderten Menschen fest, wenn sie zu ihrer Zufriedenheit, ihrer Laune oder ihrem Frustrationsgrad befragt wurden. 1994 gaben 86 Prozent der befragten, hoch querschnittgelähmten Menschen (Tetraplegie) in einer Studie an, ihr eigenes Leben als “durchschnittlich” oder “besser als durchschnittlich” zu bewerten. In einer anderen Studie mit älteren querschnittgelähmten Menschen bewerteten diese ihre Lebensqualität sogar höher als nichtbehinderte Menschen der gleichen Altersgruppe.
Und es gibt noch viele weitere Studien dazu, die mehrheitlich alle das Gleiche sagen: Die Fähigkeit, laufen zu können, hat kaum Einfluss auf die Beurteilung der eigenen Lebensqualität.
Sport sollte eigentlich verbinden und die Vielfalt der Menschen als etwas Positives feiern. Die Olympischen und Paralympischen Spiele in London 2012 haben gut gezeigt, wie das geht, auch mit ihren Eröffnungsfeiern. Okay, ich gebe zu, ich bin da nicht ganz neutral, ich war bei beiden Eröffnungsfeiern dabei. Im Rollstuhl. Zusammen mit Tausenden anderen Freiwilligen unterschiedlichster Herkunft, jung und alt, mit und ohne Behinderung. Wie gesagt, nicht nur bei den Paralympics, auch bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele. Regisseur Danny Boyle hat mit der Eröffnungsfeier die Vielfalt der Menschen gefeiert. Die Fifa ging genau von dem Gegenteil aus: Alle sollen laufen, auch wenn sie es eigentlich gar nicht können.
Dieser Beitrag ist der Auftakt unseres neuen Blogs „Stufenlos“. Weitere Informationen darüber und über die Autorin finden Sie hier und hier.