Am Sonntag kam ich an einem Schild vorbei, auf dem darauf hingewiesen wurde, dass man zwischen ein Uhr und fünf Uhr nachts die Treppe nehmen solle. Der Fahrstuhl würde in dieser Zeit abgestellt. Es war bei Weitem noch nicht ein Uhr, sodass ich noch aus dem Gebäude herauskam. Aber ich bin immer wieder fasziniert, wer sich so etwas ausdenkt.
Eine Ausnahme? Von wegen. Fahrstühle, die nachts abgestellt werden, kommen immer mal wieder vor. Auch in Bereichen, die auch nachts genutzt werden. Was mich daran fast noch mehr ärgert als der Umstand, dass ich dann dort nicht mehr hinein- oder herauskomme, ist die Einstellung, die sich dahinter verbirgt: Menschen mit Mobilitätseinschränkungen haben spät nachts zu Hause zu bleiben, deshalb kann man den Fahrstuhl ja abschalten.
Vor Jahren bin ich mal in einer Stuttgarter U-Bahn-Station gestrandet, weil jemand noch vor Abfahrt des letzten Zuges den Fahrstuhl der Station ausgeschaltet hatte. Der herbeigerufene Sicherheitsdienst erklärte mir dann auch gleich im entrüsteten, fast schon tadelnden Tonfall, dass Rollstuhlfahrer so spät normalerweise nicht unterwegs seien. Inklusion bitte nicht nach 21 Uhr.
Noch nie auf einem Konzert
Die Organisation Mencap hat jetzt in London ein Konzert veranstaltet, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch behinderte Menschen ein Recht darauf haben, nach 21 Uhr am sozialen Leben teilzunehmen. Oft sind es nicht nur bauliche Probleme, die das verhindern, sondern auch organisatorische. Ist noch jemand da, um jemanden, der auf Assistenz angewiesen ist, mitten in der Nacht ins Bett zu bringen? Wer hilft einem Menschen mit Lernschwierigkeiten, mitten in der Nacht nach Hause zu kommen? Eine der beiden Moderatorinnen des Konzerts – eine junge Frau, die selbst eine Lernbehinderung hat – war zuvor noch nie auf einem Konzert. Was für nicht behinderte 18-Jährige normal ist, war für die Moderatorin eine einmalige Ausnahme.
Gerade wenn Menschen in Einrichtungen leben und nicht selbstbestimmt in der eigenen Wohnung wohnen, müssen sie sich oft an den Ablauf der Einrichtung anpassen. Konzert- und Kinobesuche nur nach Anmeldung, wenn überhaupt. Inklusion sieht anders aus.
Die späte Buchung verrät die Identität
Wer als behinderter Mensch nach 21 Uhr unterwegs ist, bekommt auch schon mal gesagt, wie ungewöhnlich das sei. Ich bin ständig nach 21 Uhr unterwegs. Wenn ich mir spät ein Taxi bestelle, um nach Hause zu fahren, ist es mir mehrfach passiert, dass ein Fahrer kam, den ich schon kannte. Das ist in einer Millionenstadt wie London mit 20.000 Taxis wirklich sehr ungewöhnlich. „Ich habe gleich gewusst, dass Sie es sind, als ich die Buchung sah. Ist ja schon spät, da fahren nur noch Sie mit der Taxicard. Ich wollte eigentlich nach Hause fahren, aber ihr Zuhause liegt ja auf meinem Weg“, kriege ich dann manchmal zu hören. Eine Taxicard ist ein System, das in London die Fahrdienste ersetzt und mit dem Rollstuhlfahrer und blinde Menschen preiswert Taxi fahren können. Natürlich wissen die Fahrer eigentlich nicht, wer die Fahrt gebucht hat, bevor sie sie annehmen. Aber sie sehen, dass es eine Taxicard-Buchung ist.
Es ist spät, da bucht eine Rollstuhlfahrerin im Südosten Londons: Allein über diese Angaben wissen die Fahrer also schon, dass ich das sein muss. Und weil sie mich kennen und wissen, wo ich wohne und das auf ihrem Weg liegt, nehmen sie die Fahrt an. Nun könnte ich mich über meinen Taxi-VIP-Status in London freuen. Tue ich aber nicht, denn es zeigt nur, dass der Weg zur Inklusion noch weit ist.
Nicht zum Nulltarif
Es muss triftige Gründe dafür geben, warum so wenige behinderte Menschen spät abends unterwegs sind. Genau diese Gründe sind es, die die Inklusion behindern, und ich ahne, welches der wichtigste ist: fehlende Assistenz. Ist diese nicht gegeben, kann man sein Leben nicht selbst bestimmen. Ein weiteres Problem sind Strukturen, die einem sagen, wann man zu Hause zu sein hat, sowie die Einstellung, behinderte Menschen hätten abends und nachts zu Hause zu sein, und dass es auch keinen Grund gebe, das zu ändern.
Die Lösung für dieses Problem lautet in vielen Fällen persönliche Assistenz statt Heim oder Pflegedienst. Wenn mehr behinderte Menschen selbst bestimmen könnten, was sie mit ihrem Leben machen und wann sie es tun, würde das Fahrstuhl-Ausschalten aufhören und auch nach 21 Uhr könnte man auf viel mehr Menschen mit Behinderungen treffen. Ja, das alles kostet Geld, aber Inklusion ist nicht zum Nulltarif zu haben. Nicht einmal vor 21 Uhr.