Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Der lange Weg zur Inklusion

 

Der Weg zu Inklusion und voller gesellschaftlicher Teilhabe behinderter Menschen ist noch weit. Für die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung ist der Weg aber wohl noch weiter als für die meisten anderen Gruppen. Das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage der Bundesvereinigung Lebenshilfe.

Nur eingeschränkte Teilhabe möglich?

Die deutsche Bevölkerung ist überwiegend der Auffassung, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Bei der Freizeitgestaltung (Sport, kulturelle Aktivitäten) meinen immerhin 19 Prozent der Befragten, dass dies uneingeschränkt möglich sei. Die große Mehrheit (62 Prozent) glaubt jedoch, geistig Behinderte nur eingeschränkt teilnehmen können. 14 Prozent halten es für kaum oder gar nicht möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung ihre Freizeit selbstständig gestalten.

Ganz ähnlich sieht es bei der Frage nach selbstständigem Wohnen, dem Besuch einer regulären Schule, eigenständigen Urlaubsreisen oder der Teilnahme am regulären Arbeitsleben aus. In diesen Bereichen halten jeweils nur vier bis neun Prozent der Bevölkerung es für möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung am gesellschaftlichen Leben uneingeschränkt dabei sein können. 61 bis 75 Prozent sehen eine eingeschränkte Partizipationsmöglichkeit. Dass Menschen mit geistiger Behinderung von vornherein ausgeschlossen sind, glauben je nach Bereich lediglich zwischen 18 und 28 Prozent.

Kaum Kontakt

Nur jeder fünfte Befragte (22 Prozent) gab an, überhaupt Kontakt mit Menschen mit geistiger Behinderung zu haben, sei es in der eigenen Familie, dem Verwandten- oder Bekanntenkreis. Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention bereits vor fünf Jahren von Deutschland ratifiziert wurde, ist sie als Auslöser für die Inklusionsdebatte weitgehend unbekannt. Nur 22 Prozent der Bevölkerung haben von der UN-Konvention überhaupt gehört.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Men­schen­recht­sübereinkom­men, das neben der Bekräf­ti­gung all­ge­meiner Men­schen­rechte auch für behin­derte Men­schen eine Vielzahl auf die Lebenssi­t­u­a­tion behin­derter Men­schen angepasste Bestimmungen enthält.

Das Bild in der Gesellschaft: Hilfsbedürftig

Auch das Bild von Menschen mit geistiger Behinderung scheint sich nur langsam zu wandeln. Aus Sicht der Befragten sind Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie „hilfsbedürftig“ (88 Prozent). An zweiter Stelle folgt mit 57 Prozent der Begriff „lebensfroh“, knapp dahinter liegen „ausgegrenzt“ und „Mitleid“ mit jeweils 56 Prozent. Jeder zweite Bürger hat Berührungsängste. Nur wenige Befragte glauben, dass Menschen mit geistiger Behinderung „selbstständig“ oder „gut integriert“ (jeweils 18 Prozent) sind. Personen, die in ihrem Umfeld Menschen mit einer geistigen Behinderung kennen, nennen diese positiven Begriffe allerdings häufiger.

Das Bild stimmt nicht (mehr)

Dass Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie hilfsbedürftig seien, decke sich nur noch sehr bedingt mit der Wirklichkeit, die die Lebenshilfe wahrnehme, sagte deren Vorsitzende Ulla Schmidt. Immer mehr Menschen mit Behinderungen nehmen ihre Interessen unterdessen selbstbewusst in die eigene Hand, sagte sie.

Was mir bei der Umfrage vor allem auffällt, ist der extrem defizitorientierte Blick. Wenn wir weiter davon ausgehen, dass Inklusion behinderter Menschen nicht oder nur eingeschränkt möglich sein wird, statt zu überlegen, wie es gehen könnte, wird der Weg noch länger werden. Wer von Anfang glaubt, es wird sowieso nicht funktionieren, wird natürlich scheitern. Und gegen das falsche Bild hilft vor allem eines: Kontakt mit den Menschen selber. Wenn nur jeder Fünfte überhaupt Kontakt mit Menschen mit einer geistigen Behinderung hat, dann ist auch klar, woher die Berührungsängste kommen. Was man nicht kennt, verunsichert. Wenn behinderte Menschen mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, dann wird auch diese Angst weniger. Es ist noch ein langer Weg. Deshalb wäre es gut, wenn man mal ein bisschen an Geschwindigkeit zulegen würde.