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Wegweiser auf vier Beinen

Wir waren beide nie besondere Tierliebhaber, hatten nie Haustiere. Mein Freund hatte sogar Angst vor Hunden. Er ist jahrelang, nachdem er erblindete, immer mit einem Blindenlangstock durch die Welt gegangen. Aber schon als wir in Hamburg lebten, gab es Probleme in großen Menschenmassen. Am Hauptbahnhof beispielsweise. Leute fielen über den Stock, kickten ihm den Stock aus Versehen aus der Hand, ein paar Mal zerbrach der Stock sogar, weil jemand aus Versehen draufgetreten war. Besonders blöd war das, wenn die Verursacher aus Scham oder Ignoranz einfach wegliefen, statt ihm zu helfen.

Hund versus Stock

Als wir nach London zogen, arbeitete er in Soho. Der nicht zuletzt bei Touristen beliebte Stadtteil ist zwar mit seinen Lokalen ein nettes Arbeitsumfeld, aber für jemanden, der mit Blindenlangstock unterwegs ist, durchaus eine Herausforderung. Viele Leute wissen gar nicht, dass blinde Menschen einen Stock benutzen, nehmen deshalb keine Rücksicht und so häuften sich die zerbogenen Stöcke, Wunden und blauen Flecken.

Irgendwann nahm mein Freund, trotz Hundeangst, Kontakt mit Guide Dogs auf. Das ist die Organisation, die in Großbritannien alle Blindenführhunde ausbildet. Sie überzeugten ihn davon, seine Hundeangst abzulegen und dass es gut wäre, unseren Haushalt künftig mit einem Hund zu teilen.

Mercer
Dann zog Mercer bei uns ein. Mercer führt meinen Freund seit fast vier Jahren durch London und die Welt. Gebrochene Stöcke und blaue Flecken sind nun vorbei. Dafür kennen wir jetzt fast alle Parks und Grünflächen in London.

Nicht ablenken, bitte

In London gibt es fast 400 Blindenführhunde. Sie werden von der Organisation Guide Dogs gezüchtet und trainiert und sind Weltklasse. In Deutschland gibt es Führhundschulen, die die Hunde ausbilden. Die Kosten für einen Blindenführhund trägt in Deutschland die Krankenkasse, in Großbritannien werden Anschaffung, Schulung und Unterhalt der Hunde ausschließlich über Spendengelder finanziert, was manchmal zu etwas komischen Situationen führt. Die Spender, denen man auf der Straße begegnet, glauben, ihnen gehört der Hund irgendwie auch. Sie wollen ihn füttern streicheln, wenn er eigentlich arbeiten soll. Das ist manchmal nicht ganz einfach, denn einen Blindenführhund bei der Arbeit abzulenken, ist nicht gut. Die Hunde sind trainiert, sich zu konzentrieren, aber es sind immer noch Hunde. Natürlich drehen sie sich um und lassen sich ablenken, wenn sie jemand streichelt oder sogar füttern will. Deshalb ist es immer wichtig, die Besitzer zu fragen, bevor man einen Blindenführhund streichelt. Und oft lehnen die Besitzer das ab, um den Hund im „Arbeitsmodus“ zu halten.

Mercer im Bus

Mercer ist ein ziemlich cleverer Hund, versteht Englisch und Deutsch. Aber seine Befehle bekommt er ausschließlich in Englisch. Er kennt zum einen bekannte Strecken, kann sich aber auch neue Strecken ziemlich schnell merken. Und er kann abstrahieren. Er findet Cafés, wenn man ihm sagt „Go to coffee„. Das hat mein Freund ihm beigebracht, weil er gerne in Cafés geht. Er findet Türöffner, Ampelanlagen, Treppen, Sitzgelegenheiten, Ausgänge, Tresen und vieles mehr auf Kommando.

Reisefreudiger Hund

Da wir wussten, dass wir gerne reisen, hat uns Guide Dogs einen Hund gegeben, der ebenfalls etwas abenteuerlustig ist. Mercer liebt es, neue Städte zu erkunden, war bereits in den USA, in Deutschland, Frankreich, Spanien und Österreich. Da merkt man manchmal, dass es eben doch ein britischer Hund ist. Denn Fahrradwege auf dem Bürgersteig, wie zum Beispiel in Berlin, gibt es in Großbritannien so nicht. Das mussten wir ihm in Berlin erst beibringen, sich davon fern zu halten.

Mercer in Berlin

Bis auf ganz wenige Ausnahmen war Mercer bislang übrigens länderübergreifend überall willkommen. Großbritannien, die USA und Spanien haben recht klare Gesetze, dass blinden Menschen nirgendwo der Zugang verwehrt werden darf, nur weil sie einen Blindenführhund haben. Denn die Hunde sind wirklich gut trainiert, beißen nicht und sind stubenrein.

Auch in Deutschland ist die Rechtsauffassung unterdessen so, dass Blindenführhunden der Zugang nicht verwehrt werden darf. Leider wissen das immer noch zu wenige Menschen. Die Hunde geben den Besitzern Unabhängigkeit und Mobilität. Manchmal muss man den Geschäftsleuten erklären, was es bedeutet, einen Blindenführhund zu haben und dass sie ihn ohne Gefahr in ihr Geschäft oder Restaurant lassen können. Aber es gibt durchaus noch Fälle, in denen Blindenführhundhaltern der Zugang zu Lokalen, Supermärkten und anderen Einrichtungen verwehrt wird. Übrigens ein schönes Beispiel dafür, dass Inklusion oft eben keine Frage des Geldes, sondern eine Frage der Einstellung ist. Blindenführhunde und andere Assistenzhunde willkommen zu heißen, kostet nichts. Aber es ist ein wichtiger Schritt zur Inklusion.

 

Rollstuhl ist nicht gleich Rollstuhl

Derzeit findet in Düsseldorf die Rehacare statt. Das ist die größte Hilfsmittelmesse der Welt. Sie ist so etwas wie der Genfer Automobilsalon für Rollstühle. Okay, nicht so ganz so schick und es gibt auch noch viele andere Hilfsmittel zu sehen, aber auch bei Rollstühlen gibt es Hersteller und Modelle wie bei Autos eben.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich meinen ersten Rollstuhl bekam. Ich war etwa sechs Jahre alt und fand Rollstühle immer toll. Ich bekam einen der ersten bunten Kinderrollstühle, die es überhaupt gab. Vorher hab es furchtbare Geräte, die vor allem für Kinder völlig ungeeignet waren, was dazu führte, dass Kinder, die nicht gehen konnten, ewig in Kinderwagen durch die Welt geschoben wurden statt sie selber zu entdecken.

Aber um 1980 herum kam Sopur. Die Firma, die unterdessen zu einem amerikanischen Weltkonzern gehört und auch den Namen Sopur als Firmennamen abgelegt hat, baute in einer Industriehalle in Malsch bei Heidelberg meinen ersten Rollstuhl zusammen. Sopur war damals eine so kleine Firma, dass ich beim Zusammenbauen des Rollstuhls zuschauen konnte. Meine Eltern hatten den Rollstuhl direkt dort bestellt. Das geht heute bei kaum noch einem Rollstuhlhersteller. Rollstühle werden heute vor allem über Sanitätshäuser vertrieben.

Für mich war damals das Wichtigste, dass ich mir die Farbe aussuchen konnte – Gelb und Blau standen zur Auswahl. Bei meinem zweiten Modell gab es dann auch schon Rot. Ich entschied mich für Gelb mit einer blauen Rückenbespannung.

Deutscher Erfindergeist

Rollstuhl von Stephan Farfler
Bild: Wikipedia

Rollstühle sind übrigens, sowohl was die modernen Rollstühle als auch was die Geschichte des Rollstuhls angeht, nicht zuletzt Ergebnisse deutscher Erfinder- und Ingenieurskunst. Sopur ist da nur ein Beispiel. Schon 1655 baute sich der Nürnberger Uhrenmacher Stephan Farfler ein dreirädriges Fahrzeug, das er mit Handkurbeln über ein Zahnradgetriebe antrieb. Es war wahrscheinlich der erste Rollstuhl, mit dem man sich selbst fortbewegen konnte.

Wenn man bedenkt, dass noch 1980 ein farbiger Rollstuhl, der auf Kindergröße angepasst wurde, so etwas Besonderes war, wird einem bewusst, welche Entwicklung Rollstühle in den vergangenen 30 Jahren gemacht haben. Heute stehen bei der Rehacare Hunderte Modelle, bei denen man nicht nur fast jede Farbe auswählen kann, sondern deren Zubehör- und Ausstattungskatalog von der Auswahl her dem eines hochpreisigen Auto in nichts nachsteht. Es dauert länger, einen neuen Rollstuhl auszusuchen als ein neues Auto. Ich bin immer ein bisschen neidisch, wenn die ich heutigen Kinderrollstühle sehe.

Kinderrollstuhl

Selbst E-Rollstühle für Kinder gibt es heute, die nicht einmal aussehen wie Rollstühle, sondern eher wie ein Bobby Car nach dem Tuning.

Rahmenfarbe? Bremsen? Seitenteile?

Wer heute einen Rollstuhl kauft muss ziemlich viele Entscheidung treffen: Elektrisch oder manuell? Welche Vorderräder? Welche Rückenbespannung? Welche Bereifung? Welche Seitenteile? Welche Bremsen? Klappbar oder nicht? Welche Griffe oder keine Griffe? Neigung der Hinterräder? Wie stark soll der Rollstuhl eine Tendenz haben, nach hinten zu kippen? Und dann kommt es natürlich auf die persönlichen Maße an: Sitzbreite, Beinlänge, Höhe der Rückenlehne?

Je besser ein Rollstuhl auf die Person, die ihn nutzt, abgestimmt ist, desto besser fährt er sich und desto besser kann man darin sitzen. Ein schlecht angepasster Rollstuhl führt unweigerlich zu Rückenschmerzen und anderen Problemen. Mein Rollstuhl fühlt sich an wie ein Teil von mir. Er ist genau auf meinen Körper zugeschnitten und deshalb hasse ich es auch, irgendwo anders zu sitzen. Mein Rollstuhl ist bequem, er gibt mir Stabilität und er passt einfach. Deshalb muss ich immer schmunzeln wenn Leute mir sagen, ich soll mich doch mal woanders hinsetzen, so ein Rollstuhl sei doch sicher sehr unbequem. Im Gegenteil. Ein gut angepasster Rollstuhl ist für mich bequemer als jedes Sofa. Von anderen Stühlen ganz zu schweigen.

 

Danke, Tanke!

TankstelleHeute war ich tanken. Was für nicht behinderte Menschen eine Angelegenheit von fünf Minuten ist, ist für mich schon aufwendiger: Ich muss mein Auto so parken, dass ich mit Rollstuhl zwischen Zapfsäule und Auto passe, andererseits aber niemanden bei der Durchfahrt behindere. In Deutschland war das noch machbar, in Großbritannien sind die Tankstellen so eng gebaut, dass es manchmal gar nicht geht. Außerdem bedeutet tanken für mich, Rollstuhl ausladen, zusammenbauen und umsteigen, zur Kasse rollen, hoffen, dass ich in den Verkaufsraum passe (auch die sind hier manchmal sehr klein), mit der Tür kämpfen, zurück zum Auto, wieder umsteigen, Rollstuhl wieder auseinandernehmen, wieder ins Auto heben. Unter 15 Minuten ist das oft nicht zu machen.

Fernbedienungen und eine App

Seit ein paar Jahren gibt es für Rollstuhlfahrer und andere Menschen, die nicht so einfach aus ihrem Auto kommen, Fernbedienungen mit Rufknöpfen, deren Signal die Tankstellen darüber informiert, dass draußen jemand wartet, der Hilfe beim Tanken benötigt. Eigentlich eine super Idee. Meine Erfahrungen damit waren bislang sowohl in Deutschland als auch Großbritannien ziemlich durchwachsen, denn oft war entweder das Empfangsgerät ausgeschaltet oder kaputt oder aber es spielten sich im Kassenbereich Szenen mit hektischem Personal ab, das glaubte, es sei ein Alarm ausgelöst worden, sie wussten aber nicht welcher. Es reicht eben nicht, die Systeme zu installieren, man muss das Personal auch schulen, wie sie damit umzugehen haben. Außerdem waren die Fernbedienungen für die Fahrer recht teuer und auch die Tankstellen mussten tief in die Tasche greifen, um ein Empfangsgerät zu installieren. Auch die Variante „Hupen und Winken“ habe ich früher praktiziert, ebenfalls mit durchwachsenem Ergebnis. Am besten funktionierte noch, wenn ich andere Autofahrer um Hilfe bitten konnte, aber auch die erreicht man nicht immer oder es sind einfach keine da.

Unterdessen gibt es in Deutschland eine App, mit der man Hilfe an Tankstellen anfordern kann. Allerdings nicht per Knopfdruck, sondern man muss die Tankstellen vorher oder spätestens wenn man davor steht, anrufen. Die App listet die Tankstellen auf, die sich bereiterklärt haben, Rollstuhlfahrern und anderen behinderten Menschen zu helfen.

Neues System

Hier in Großbritannien hat man gerade ein neues System eingeführt, an dem sich unter anderem zwei große Supermarktketten beteiligen, die auch ein Tankstellennetz betreiben. Die große, klobige (und teure) Fernbedienung des alten Systems, das nie funktioniert hat, ist verschwunden. Ich habe jetzt einen kleinen Sender mit Knopf am Schlüsselbund. Ich kann sofort bei der Einfahrt in die Tankstelle sehen, ob das System eingeschaltet ist. War es bislang immer. Sobald ich den Knopf drücke, blinkt das Licht an der Wand und ich weiß, dass das Signal angekommen ist. Wenn der Kassierer im Kassenbereich meinen Hilfewunsch registriert hat, bestätigt er das per Knopfdruck und das Licht draußen schaltet sich auf grün. Dann weiß ich, dass gleich jemand kommen wird. Sehr angenehm finde ich, dass ich weiterhin mit Karte zahlen kann. Ich gebe dem Kassierer die Karte mit, er zieht sie durchs System und ich unterschreibe, obwohl ich eigentlich eine PIN brauche, aber in diesen Fällen akzeptieren die Tankstellen eine Unterschrift.

Ich habe den Sender jetzt seit gut einem Jahr. Im Gegensatz zum alten System hat es immer funktioniert. Vielleicht auch, weil es meine örtliche Tankstelle selber war, die mir den Sender geschenkt hat und ganz stolz auf das neue System ist. Die Anschaffung hat sich für meine Tankstelle nach einem Jahr allein mit meinem Benzinverbrauch und der neuen Kundenbindung schon gelohnt, vermute ich mal. Und ich weiß, dass ich nicht die einzige Rollstuhlfahrerin bin, die da tankt.

 

Wenn sich Arbeit nicht lohnt

Wenn Raul Krauthausen am Monatsende auf sein Konto schaut, macht es kaum einen Unterschied, ob er viel oder wenig gearbeitet hat, und das obwohl er Selbstständiger ist. Denn für ihn sind 700 Euro plus Miete das Maximum, das er verdienen kann.

Raul ist Rollstuhlfahrer und auf Assistenz angewiesen. Er braucht Assistenten, die ihm morgens und abends beim Anziehen helfen, im Bad oder beim Kochen. Die Kosten hierfür trägt das Sozialamt, aber nur wenn Raul nicht mehr als 700 Euro plus Miete verdient. Liegt sein Einkommen darüber, muss er selbst für einen großen Teil seiner Assistenzkosten aufkommen beziehungsweise dem Sozialamt seine Assistenzkosten erstatten.

Assistenzleistungen sind in Deutschland an die Sozialhilfe gekoppelt und die wiederum ist eine einkommensabhängige Leistung. Und nicht nur das: Auch Sparen darf Raul nicht, denn bei 2.600 Euro ist Schluss. Auch dann hält das Sozialamt wieder die Hand auf. Das bedeutet für ihn und alle anderen behinderten Menschen, die Assistenz brauchen, das sie auch nicht fürs Alter vorsorgen, auf ein Auto sparen oder sich ein Haus kaufen können. Und es kommt noch schlimmer: Sind behinderte Assistenznehmer in einer Partnerschaft, wird auch das Einkommen des Partners bei der Berechnung einbezogen.

Raul ist kein Einzelfall. Auch Catharina Wesemüller in Hamburg ist von der Gesetzeslage betroffen. Sie arbeitet in der freien Wirtschaft, hat BWL studiert und trotzdem lohnt sich die Leistung, die sie täglich erbringt, für sie finanziell nicht, denn auch sie ist auf Assistenz angewiesen und das Amt hält sofort die Hand auf. Da die Miete auf den Freibetrag angerechnet wird, wollte man sie sogar auffordern, eine günstigere Wohnung zu suchen nachdem sie aus einer WG ausgezogen war. Jeder, der in Hamburg schon mal eine barrierefreie Wohnung gesucht hat, weiß, wie schwierig das ist. Der NDR hat über den Fall berichtet.

In einigen europäischen Ländern sind Assistenzaufwendungen für behinderte Menschen aus der Sozialhilfe rausgenommen. Zu arbeiten lohnt sich dort auch für die Menschen, die einen hohen Assistenzbedarf haben. Schweden ist eines der bekanntesten Beispiele. Das Einkommen der Partner wird in einigen Ländern gar nicht berücksichtigt.

Zu Inklusion gehört auch, dass Leistung von behinderten Menschen anerkannt und entsprechend entlohnt wird. Viele Gesetze und Regeln, die derzeit für Assistenznehmer gelten, sind zu Zeiten entstanden, in denen niemand davon ausging, dass Menschen mit hohem Assistenzbedarf überhaupt arbeiten und eine Familie gründen wollen. Behinderten Menschen die Altersvorsorge und ein normales Familienleben mit einem durchschnittlichen Einkommen vorzuenthalten, ist genau das Gegenteil von dem, was die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Deutschland ratifiziert hat, zum Ziel hat. Wer Inklusion will, muss auch behinderten Menschen zugestehen, mehr als ein paar hundert Euro im Monat zu verdienen. Mit der jetzigen Regelung können sie unter Umständen nicht einmal den beschlossenen Mindestlohn nach Hause tragen, ohne dass ihnen das Sozialamt einen Teil davon wieder wegnimmt.

 

Warum ein Eimer Eiswasser nicht genug ist

Ich bin eigentlich für fast jedes Internet-Phänomen zu haben, kann Tränen über die verfälschten Film- und Tiernamen auf Twitter lachen und kenne diverse „Happy“-Videos. Nur die Eiswassereimer lassen mich irgendwie kalt.

Bei der Ice Bucket Challenge gießen sich Menschen einen Eimer Eiswasser über den Kopf, filmen sich dabei und teilen es auf Facebook und Twitter. Damit soll die Aufmerksamkeit für die Nervenerkrankung ALS geschärft und Geld gesammelt werden.

Soweit so gut, aber mit dem Bewusstsein, dass es die Erkrankung gibt und Leute, die damit leben, ändert sich erstmal nichts. Okay, die Spenden für die Forschung nehmen zu. Aber davon werden Leute, die jetzt ALS haben, vermutlich nicht mehr profitieren können.

Wenn sich jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf kippt, ändert das nichts am Leben der Menschen. Dabei könnten manche, die ihr Hirn abgekühlt und das für die Nachwelt festgehalten haben, durchaus noch mehr tun – nicht nur spenden und in Eiswasser duschen.

Ein paar Beispiele:
Gestern Abend war ich auf einer Veranstaltung in einem Gründerzentrum. Am Morgen hatte ich einen bekannten Unternehmer auf Facebook sehen können, wie er die Eisdusche nimmt. Keine 12 Stunden später stand ich vor Stufen eines nagelneu eingerichteten Veranstaltungsbereichs eben dieses Gründerzentrums, mitfinanziert durch die Firma genau dieses Firmengründers. Niemand, der wegen ALS im E-Rollstuhl sitzt, wäre dort hineingekommen.

Ein anderes Beispiel aus dem Internet: Viele Menschen mit ALS und vergleichbaren Behinderungen können Computer nur mit besonderen Eingabegeräten benutzen. Aber gerade die großen Internetunternehmen sind immer noch nicht besonders gut darin, ihre Websites so zu bauen, dass sie auch mit diesen Eingabegeräten oder aber mit Sprachausgaben für blinde Nutzer gut funktionieren.

Also wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann sicher nicht, dass sich Mark Zuckerberg, um mal nur einen zu nennen, einen Eimer Eiswasser über den Kopf kippt, sondern dass ich endlich mit Freunden, die behinderungsbedingt verschiedene Ein- und Ausgabegeräte nutzen, problemlos auf Facebook kommunizieren kann und sie sich nicht aus Frust komplett abmelden, weil sie sich ausgeschlossen fühlen, weil die Seite und der Chat mit den Hilfsmitteln so schwer zu bedienen sind.

Und dann noch die Sache mit dem Bewusstsein. Ja, es kann nicht schaden zu wissen, dass es ALS gibt. Aber Bewusstsein kann nur ein erster Schritt sein. Was ja folgen muss, sind Veränderungen im Umgang mit den ALS-Betroffenen. Dass sie nicht mehr als betrunken abgestempelt werden, nur weil sie eine verwaschene Sprache haben zum Beispiel, etwas was viele Leute mit ALS und anderen Beeinträchtigungen, die die Sprache betreffen, erleben. Dass man sie nicht sofort vor die Tür setzt, wenn der Arbeitgeber von der Erkrankung erfährt. Dass sie auch künftig noch in der Bäckerei um die Ecke einkaufen können, weil der Bäcker eine Rampe gekauft hat.

Ja, Forschung ist wichtig. Aber genauso wichtig ist, sich mal zu überlegen, wie das Leben der betroffenen Leute jetzt und nicht in ferner Zukunft verbessert werden kann. Jeder in seinem kleinen Bereich. Mit Rampen, barrierefreien Toiletten, zugänglichen Websites, einem besseren Service oder einfach einer anderen Einstellung. Das hilft dann nicht nur ALS-Betroffenen, sondern vielen anderen auch.

 

Im Sitzen zur Stehparty

Ich bin eigentlich ständig auf Stehempfängen und Stehpartys. Das bringt mein Leben irgendwie so mit sich. Die Medien- und Geschäftswelt feiert und netzwerkt im Stehen. Im Gegensatz zu Wolfgang Schäuble meide ich sie nicht, sondern mache sie mir einfach barrierefrei.

Letztes Wochenende war ich auf einer Geburtstagsparty eingeladen. Es gab ein paar Stühle und Tische, aber die meisten Leute standen. Ich habe das gemacht, was ich immer in diesen Situationen tue: Ich schnappte mir die Leute, mit denen ich mich unterhalten wollte und setze mich mit denen irgendwo hin. Und umgekehrt, die Leute, die mich sprechen wollten, holten sich einen Stuhl und setzten sich zu mir.

Ich war noch nie irgendwo, wo es keine Stühle gab – und wenn sie jemand aus einem anderen Raum holen muss. Aber dann frage ich danach.

Hocke oder nicht Hocke?

Die Leute fragen mich oft, ob sie sich zu mir herunterknien oder in die Hocke gehen sollen, wenn sie mich treffen. Das ist natürlich sehr individuell, wie jeder Rollstuhlfahrer das handhabt. Aber meist ziehe ich es vor, zu den Leuten nach oben zu schauen, zumindest bis zu einer Größe von 1,85 Meter. Denn spätestens nach fünf Minuten werden sie unruhig, wenn sie in der Hocke sitzen, weil ihnen die Knie einschlafen. So kann man kein vernünftiges Gespräch führen. Ich bitte die Leute sehr oft, sich einen Stuhl zu besorgen oder mit mir in einen Bereich zu gehen, wo man sitzen kann. Ich saß schon oft umringt von stehenden Leuten in der Mitte eines Raumes und habe mich mit jemandem, der neben mir auf dem Stuhl saß, unterhalten. Mann muss es einfach machen.

Was mich allerdings echt nervt ist, wenn es etwas zu essen gibt und das an Stehtischen. Das ist mir erst vor Kurzem auf einer Konferenz passiert. Zur Abendveranstaltung in einem großen Ballsaal eines Fünf-Sterne-Hotels gab es ein riesiges Buffet – aber leider nur Stehtische. Ich kam in den Saal rein und mir war klar, wenn ich das nicht sofort anspreche, wird das kein schöner Abend für mich werden. Ich hätte auf dem Schoß essen und mein Glas auf den Boden stellen müssen. Alleine. Während die anderen sich an Stehtischen unterhielten.

Also bin ich zu dem Bankettchef hin und fragte ihn, wo ich denn essen solle. Allgemeine Ratlosigkeit machte sich in den Gesichtern breit, aber dann holten mehrere Kellner einen runden niedrigen Tisch. Sogar einen Kerzenständer bekam „mein“ Tisch wie alle anderen Tische auch. Da ich nicht alleine essen wollte, fragte ich noch nach ein paar Stühlen. Auch die wurden gebracht. Und es überraschte mich nicht, dass sich der Tisch schnell füllte. Wer will schon gerne im Stehen essen, wenn er sitzen kann?

Ja, natürlich nervt das manchmal, fragen zu müssen, weil andere Leute nicht mitgedacht haben. Aber andererseits ändert sich ja nie etwas, wenn man als Rollstuhlfahrer einfach wegbleibt. Der Bankettchef des Hotels denkt jetzt vielleicht anders über sein Stehtisch-Konzept als vorher. Und jeder Eventmanager, der für mich Stühle tragen musste, weiß nun, dass eine gute Party nur eine ist, bei der man sich auch mal irgendwo hinsetzen kann.

 

Behinderung als gesellschaftliche Aufgabe

Es war vor fast genau zehn Jahren als ich in Oslo die Rede des norwegischen Politikers Lars Ødegård hörte (hier lang zur deutschen Übersetzung). Ødegård war der erste rollstuhlfahrende Abgeordnete im norwegischen Parlament. Von der Krankheitslehre zur Politik hatte er seine Rede überschrieben und rief dazu auf, Behinderung nicht mehr als persönliches Schicksal und medizinisches Problem anzusehen, sondern als gesellschaftliche Aufgabe aller:

Behinderte Menschen auf der ganzen Welt begegnen den gleichen Mythen und Aberglauben. Mythen basieren auf der Annahme, dass unser Leben ein ärmeres ist und dass der Grund dafür in unserer Biologie liegt. Diese Mythen sind vielleicht auch der Grund, warum Behinderung primär eine Angelegenheit des Gesundheitswesens und der öffentlichen Wohlfahrt ist. Es ist an der Zeit, uns klar zu machen, dass Behinderung eine Angelegenheit der Menschenrechte ist. Wenn wir das nicht begreifen, bleibt die Chance, Gleichberechtigung und volle Teilhabe zu erreichen, nur ein Traum.

Bis heute ist Ødegårds Rede in meinem Gedächtnis geblieben und hat mich in meinem Denken über das Thema Behinderung sehr geprägt. Er hat mir klar gemacht, dass Behinderung kein medizinisches Problem ist, sondern eine Frage von Menschenrechten und damit eine gesellschaftliche Aufgabe.

In Großbritannien erfand man sogar einen Namen für diese Art, Behinderung zu definieren: „Soziales Modell von Behinderung“ nennt man das. Immer mehr Organisationen und selbst der britische Staat nehmen das soziale Modell als Grundlage ihres Handelns in vielen Bereichen.

Das medizinische Modell hingegen geht davon aus, dass es in erster Linie ein medizinisches und damit individuelles Problem ist, wenn jemand zum Beispiel nicht laufen kann. Diese Sichtweise endet nur ganz schnell in der Sackgasse, wenn man merkt, dass man medizinisch bei vielen Behinderungen gar nichts tun kann. Genau das unterscheidet sie nämlich von Krankheiten. Ein einfaches Beispiel: Wenn ein Rollstuhlfahrer nicht in ein Gebäude mit zehn Stufen vor der Tür kommt, ist nach dem medizinischen Modell der medizinische Zustand die Ursache des Problems, also dass der Rollstuhlfahrer nicht laufen kann. Das soziale Modell sieht die Treppe und das Fehlen eines Fahrstuhls als ursächlich für das Problem an.

Leider ist das medizinische Modell weltweit noch immer der bevorzugte Weg, mit Behinderung umzugehen. Es wird medizinisch oft alles Nötige (und auch viel Unsinniges) versucht, um die Behinderung zu heilen, um am Ende enttäuscht aufzugeben. Dabei gibt es so viele andere, viel erfolgversprechendere Ansätze, um behinderten Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen: Barrierefreien Wohnraum schaffen, notwendige Assistenz stellen, Zugang zu Hilfsmitteln, Anpassungen an den Arbeitsplatz vornehmen, Untertitel anbieten, Gebärdensprache anerkennen. Die Liste ist quasi unendlich.

Natürlich geht es nicht darum, jemandem die optimale medizinische Versorgung abzusprechen, aber wenn man am körperlichen Zustand nichts ändern kann, wäre es dann nicht angebracht, die Umwelt, die Vorgänge, die Gegebenheiten an behinderte Menschen anzupassen? Genau davon geht das soziale Modell von Behinderung aus. Und es geht sogar noch weiter. Als Behinderung wird nicht mehr der körperliche Zustand bezeichnet, sondern die Barrieren, die das Leben behinderter Menschen erschweren. Deshalb sagen die Briten auch konsequenterweise „disabled people“ (also Menschen, die behindert werden). Den körperlichen Zustand nennen sie Beeinträchtigung (impairment).

Und jetzt kann man von dieser Herangehensweise halten was man will, aber Tatsache ist, sie hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einer verstärkten Emanzipation behinderter Menschen in Großbritannien und anderswo geführt.

Man kommt endlich mal davon weg, behinderten Menschen vorzuhalten, es sei etwas falsch und nicht in Ordnung mit ihnen – und das auch noch bei etwas, worauf sie keinen Einfluss haben, geschweige denn woran sie etwas ändern könnten.

Lars Ødegård hat seine Rede damals beendet, indem er erklärt hat, warum auch behinderte Menschen selbst eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, Behinderung neu zu denken und damit Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe durchzusetzen:

Wenn jemand lange Zeit diskriminiert wird, dann wird er selbst Teil einer Kultur, in der Diskriminierung gedeihen kann. Die Geschichte hat uns viele Unterdrückte gezeigt, die ihre Unterdrücker entschuldigt und verteidigt haben. Wenn die Gesellschaft institutionalisierte Diskriminierung erfolgreich durchgesetzt hat, werden die Diskriminierten selber ganz ruhig, bescheiden und dankbare Empfänger des Wohlwollens einer diskriminierenden Gesellschaft. Das ist der Grund, warum immer noch so viele Behinderte nach mehr Krankengymnastik rufen statt nach Freiheit – weil das genau das ist, was uns beigebracht wurde. Meine letzte Frage wäre dann also: Was glauben wir von der Krankengymnastik zu bekommen, wenn nicht unsere Freiheit?

 

Eine Rampe macht noch keinen barrierefreien Hotelbus

Ich bin eine treue Kundin. Habe ich einmal ein Hotel gefunden, das barrierefrei ist, stehen die Chancen gut, dass ich auch bei den nächsten 25 Reisen in diese Stadt dieses Hotel auswähle. Denn Hotels sind, was ihre Definition von Barrierefreiheit angeht, sehr kreativ.

Von „Ich dachte, die zwei Stufen sind kein Problem“ über „Ach, Sie wollten mit dem Rollstuhl auch ins Bad“ bis zu „Wir sind behindertenfreundlich, aber das heißt ja nicht, dass wir Zimmer für Rollstuhlfahrer haben“, habe ich alles schon gehört. Ich lasse mir deswegen bei jeder Buchung schriftlich bestätigen, ein barrierefreies Zimmer gebucht zu haben. Sobald es nämlich verbindlich wird, überdenken einige dann doch noch mal ihre Angaben.

Aber bevor man in ein Hotelzimmer eincheckt, muss man dort erst einmal hinkommen. Ich habe viel an Flughäfen zu tun und nutze daher oft Flughafenhotels. Diese liegen selten direkt am Flughafen, meistens etwa fünf Kilometer vom Flughafen entfernt.

Diese Woche war ich in München. Ich hatte mich zuvor über den Transfer ins Hotel informiert und das Hotel versicherte, es gebe einen barrierefreien Hotelbus. Sogar mit Rampe.

In München teilen sich mehrere Hotelketten einen Hotelbus, der dann der Reihe nach alle zugehörigen Hotels anfährt. Als der Bus kam, traute ich meinen Augen nicht. Die Angabe des Hotels war zwar richtig. Der Bus hatte ein Rampe. Dafür aber keinen Rollstuhlstellplatz. Stattdessen befand sich dort, wo sonst dieser Platz ist, ein Gepäckfach.

Hotelbus

Ich kenne das Problem schon vom Frankfurter Flughafen. Die meisten Hotels dort haben Busse, in die ich gar nicht hineinkomme. Alternativen: Wenige.

Auch dort gibt es ein Hotel, das einen Bus mit Rampe aber ohne Rollstuhlstellplatz hatte. Als ich dort das zweite Mal übernachtete, fragte mich der Hoteldirektor, wie barrierefrei sein Hotel sei. Nicht nur fand ich toll, dass ihm das ein Anliegen war und er wissen wollte, wie zufrieden ich bin. Als ich ihm sagte, sein Hotel sei super, aber der Zubringerbus nicht, ließ er den Bus umbauen. Als ich das nächste Mal kam, war der Gepäckschrank halbiert und es gab einen Rollstuhlstellplatz. Ich weiß nicht, wie oft ich anschließend dort war, aber es waren etliche Male. Und natürlich bleibt das mein Hotel, wenn ich am Frankfurter Flughafen bin. Wie gesagt, ich bin eine treue Kundin, was Hotels angeht.

Jetzt fragen Sie sich vielleicht, warum ich mir kein Taxi nehme. Auch das habe ich bereits mehrfach versucht. Aber Sie müssten mal die Reaktionen von Taxifahrern sehen, die zwei Stunden in der Schlange am Flughafen gewartet haben, um dann eine Fahrt zum Hotel um die Ecke zu bekommen. Zwar gibt es, zumindest in Frankfurt, die Regelung, dass man innerhalb einer gewissen Zeit wieder zurückfahren darf, wenn man eine Kurzstreckenfahrt angenommen hat, ohne sich wieder zwei Stunden anzustellen, aber die Fahrer haben Angst, dass ich zu lange zum Ein- und Aussteigen brauche und sie die Zeit zur Wiedereinfahrt überschreiten. Die Sorge ist nicht ganz unberechtigt, und ich bin die Debatten mit Taxifahrern echt leid.

Für E-Rollstuhlfahrer sind Taxen gar keine Alternative, weil die Rollstühle zu schwer und zu groß für einen Kofferraum sind. Und barrierefreie Taxen sind in Deutschland rar gesät.

In den USA und Großbritannien habe ich das Problem übrigens nicht. Die Hotelbusse der großen Ketten am Flughafen Heathrow, die ich kenne, sind alle barrierefrei. Auch in den USA kenne ich nur barrierefreie Hotelbusse oder zumindest gibt es ein Standard-Verfahren, um einen barrierefreien Transport zur organisieren, wenn die Hotels wissen, dass jemand nicht gehen kann.

Das machen die Hotels weder auf der Insel noch in den USA aus reiner Menschlichkeit, sondern weil die Anti-Diskriminierungsgesetze sie dazu verpflichten. Nicht behinderten Gästen einen Hotelbus anzubieten, behinderten Gästen aber zu sagen „Sorry, geht nicht“, ist in diesen Ländern eine Diskriminierung und nicht erlaubt. Das erleichtert mir das Reisen in diesen Ländern sehr. Ich komme einfach an und fahre, wie die anderen Passagiere auch, einfach mit. Das ist Barrierefreiheit.

 

Wie ich im Traum mein Abitur verlor

Vor Kurzem habe ich geträumt, ich müsste mein Abitur noch einmal machen. Sie können sich sicher vorstellen, dass das kein schöner Traum war.

Ich hatte den x-ten Meinungsbeitrag zum Thema schulische Inklusion gelesen, diesmal in der Welt. „Die Idee, dass behinderte und nicht behinderte Kinder in einem Klassenzimmer erfolgreich lernen können, ist eine Fiktion“, las ich da. Mein Abitur, ja meine ganze Schulzeit soll eine Fiktion gewesen sein?

Ich habe an einer Regelschule 1996 Abitur gemacht. Zuvor war ich bedingt durch Umzüge auf zwei anderen Schulen, auf einer ganz normalen Grundschule und in zwei ganz normalen Kindergärten. Nun schreiben 18 Jahre nach meinem Abitur schlaue (mehrheitlich nicht behinderte) Menschen, dass das eigentlich gar nicht gehen kann. Inklusion sei eine Illusion.

Dabei wird völlig übersehen, dass es auch in Deutschland seit Jahrzehnten behinderte Kinder gibt, die erfolgreich aus dem Sonderschulsystem ausgeschert sind und das keineswegs in einem Desaster endete.

Vor ein paar Wochen rief mich eine Wissenschaftlerin an. Sie war auf der Suche nach den „wild Integrierten“. So nennen Pädagogen Leute wie mich, die einfach am System vorbei beschult wurden. Die Wissenschaftlerin wollte der Frage nachgehen, was denn genau zum Erfolg geführt hat, dass meine schulische Inklusion geklappt hat.

Ich glaube, wesentlich sind folgende Punkte:

1. Barrierefreiheit

Auch wenn das immer so diskutiert wird als sei das ja das geringste Problem, ist es doch Tatsache, dass über Jahre verpennt wurde, Schulen barrierefrei zu bauen. Wenn meine Eltern umgezogen sind, haben sie zuerst die Schule für mich gesucht und sich dann für einen Wohnort im Umkreis entschieden. Ich habe mein Abitur an einer katholischen Mädchenschule gemacht. Nicht weil meine Eltern unbedingt wollten, dass ich auf eine Mädchenschule gehe, sondern weil die Schule einen Fahrstuhl hatte. Großbritannien hat vorgemacht, wie man die Barrierefreiheit der Schulen verbessern kann: Alle Schulen (auch Privatschulen) wurden per Gesetz verpflichtet, „angemessene Anpassungen“ vorzunehmen, damit auch behinderte Schüler bei ihnen eingeschult werden können. Dann wurden lange Übergangsfristen gesetzt und dann die Einhaltung überprüft.

2. Finanzierung

Das Ganze ist nicht umsonst zu haben und wer Inklusion als Sparmaßnahme versteht, hat nicht verstanden was Inklusion bedeutet. Ich hatte das große Glück, einen nicht-staatlichen Kostenträger zu haben. Eine Versicherung muss bei mir diese Aufwendungen tragen. Hätte ich das nicht gehabt, wäre das für meine Familie sehr teuer geworden.

Die Fahrten für die Schüler kosten Geld, die Assistenz und Ausstattung der Schulen auch. Andererseits will ich aber auch mal erwähnen, dass nicht jedes behinderte Kind „sonderpädagogischen Förderbedarf“ hat. Derzeit wird mir sehr nach dem „Gießkannen“-Prinzip diskutiert. Für mich wäre es nervig gewesen, wenn ständig jemand um mich rumgetanzt wäre. Andere behinderte Kinder brauchen dafür mehr Assistenz.

3. Neue Wege gehen

Mir konnte noch niemand wirklich erklären, warum es im Interesse eines Kindes sein sollte, aussortiert zu werden, um dann nach der Schulzeit mühsam den Weg in die mehrheitlich nichtbehinderte Gesellschaft zu finden. Es wird Kinder geben, die man nicht im Klassenverband unterrichten kann oder nur in sehr eingeschränktem Rahmen. Dennoch müssen diese Kinder nicht komplett draußen bleiben.

Und auch die Lehrer müssen bereit sein, neue Wege zu gehen. Ich hatte eine Sportlehrerin, die mit mir in ihrer Freizeit überlegt hat, wie man Tanzschritte in Rollstuhlbewegungen umsetzen kann und wie man das am besten benotet. Ich hatte aber auch Sportlehrer, die mir gleich am Anfang des Schuljahres mitgeteilt haben, dass ich zum Sportunterricht nicht kommen solle. Es wird in Zukunft immer weniger funktionieren, 20 Jahre lang das Gleiche zu machen oder sogar gleichen Unterricht abzuhalten. Aber auch das wäre doch wohl auch im Interesse der nichtbehinderten Schüler.

4. Bildet die Lehrer weiter

Ein Argument, das immer wieder pro Sonderschule gebracht wird ist, dass die Lehrer besser auf behinderte Kinder eingestellt seien. Sie werden es mir jetzt vielleicht nicht glauben, aber selbst viele Gehörlosenpädagogen können zum Teil nur sehr schlecht Gebärdensprache, wenn überhaupt. Mir sind während meines Studiums an der Uni angehende Blindenpädagogen begegnet, die die Blindenschrift Braille nur sehr rudimentär konnten, um mal nur ein paar Beispiele zu nennen.

Das ist einer der Gründe, warum ich nicht „Förderschule“ sage, sondern „Sonderschule“. Keine Frage, es gibt gute Sonderpädagogen und die werden in der Zukunft gebraucht, vermutlich mehr als zuvor. Aber nicht überall, wo „Förderschule“ draufsteht, ist auch Förderung drin. Daher kommt unter anderem der Druck, behinderte Kinder in Regelschulen zu lassen. Das Bildungsniveau auf Sonderschulen für körper- und sinnesbehinderte Kinder ist teilweise derart schlecht, dass die Kinder nicht die Bildung bekommen, die ihnen eigentlich zusteht.

Aber natürlich haben Sonderpädagogen, wenn sie ihren Job ernst nehmen, ein Wissen, das andere Pädagogen nicht haben. Dennoch glaube ich, dass auch reguläre Lehrer einiges davon in Weiterbildungen lernen könnten.

Fazit

Was bei der Debatte viel zu wenig bedacht wird: Inklusion ist nicht nur „behinderte Kinder in normale Schulen schicken“, sondern sie legt den Grundstein dafür, dass eine ganze Gesellschaft den Umgang mit behinderten Menschen als normal empfindet und Berührungsängste abgebaut werden. Das ist die Grundlage für so viele andere Bereiche. Wer jahrelang neben einem blinden Klassenkameraden saß, ist vielleicht später als Arbeitgeber eher bereit, jemanden, der blind ist, einzustellen. Nicht aus Mitleid, sondern weil er weiß, was blinde Menschen leisten können. Was ich aus der Debatte oft heraushöre, ist vor allem Angst. Angst vor Veränderung, Angst Lösungen zu suchen, weil man glaubt, keine zu finden.

Als ich anfing bei BBC zu arbeiten, war das Erste, was mir auffiel, dass meine Kollegen überhaupt keine Berührungsängste hatten. Niemand stellte komische Fragen, alle fanden es völlig normal, eine rollstuhlfahrende Kollegin zu haben. Irgendwann habe ich dann komische Fragen gestellt. Ich wollte wissen, woher diese Normalität kommt, die ich so nicht gewohnt war. Und die übereinstimmende Antwort lautete: „Wir hatten doch alle mindestens einen behinderten Klassenkameraden im Laufe unserer Schulzeit.“

 

Rollstuhlfahrer dürfen keine Zahnschmerzen haben

Wer nicht laufen kann, Rollstuhlfahrerin ist oder einfach nur Probleme mit Stufen hat, sollte besser keine Zahnschmerzen bekommen. Nur 15 Prozent der Arztpraxen von Zahnmedizinern und Kieferchirurgen in Deutschland sind barrierefrei. Selbst bei den Allgemeinmedizinern sieht es nicht besser aus. Nur 22 Prozent der Praxen sind zugänglich. Die Links-Fraktion hatte gefragt, wie viele Arztpraxen in Deutschland denn eigentlich für gehbehinderte Menschen zugänglich seien. Die Antwort des Bundesgesundheitsministeriums fiel recht ernüchternd aus, überrascht mich aber leider nicht.

Als ich 1996 nach Hamburg zog, um zu studieren, suchte ich eine Frauenärztin. Vor mir lag ein Telefonmarathon. Ich telefonierte eine Praxis nach der anderen ab, immer wieder mit der gleichen Frage „Haben Sie Stufen vor der Tür?“ Die Antwort war ungefähr 50 Mal „Ja“. Als ich dann endlich eine Frauenarztpraxis gefunden hatte, die keine Stufen hatte, wurde ich mit der Praxis, den Mitarbeitern und der Ärztin überhaupt nicht warm. Da stand ich dann vor der Frage, ob ich als Rollstuhlfahrerin meine Ärzte eigentlich nach ansonsten normalen Kriterien wie Sympathie, Kompetenz, Lage und Organisation der Praxis aussuchen darf oder nicht. Ich befand, dies sei mein gutes Recht und damit begann der Telefonmarathon von vorne. Am Ende landete ich bei einer Frauenärztin, deren Nachnamen mit S anfing. Ich war alphabetisch vorgegangen. Und das in einer Millionenstadt wie Hamburg. Ich will gar nicht daran denken, wie die Lage auf dem Land aussehen muss.

Ich grinse auch immer, wenn ich an Orthopädiepraxen vorbeikomme, die 20 Stufen vor der Tür haben. Behandeln diese Orthopäden nur Leute mit gebrochenen Armen aber keine mit gebrochenen Beinen?

Aber mal im Ernst, ein Gesundheitssystem, das nicht für alle zugänglich ist, ist kein gutes Gesundheitssystem. Wie viele Frauen gehen dann eben nicht zur Vorsorgeuntersuchung statt den Telefonmarathon abzuhalten, den ich gemacht habe oder finden am Ende gar keine zugängliche Praxis? Was ist denn dann? Und es hört mit den Arztpraxen nicht auf. Es gibt auch völlig bescheuert geplante Krankenhäuser. So als ob Menschen immer nur eine Krankheit haben. Als ich mal mit einer Lungen- und Rippenfellentzündung in die Notaufnahme eines Krankenhauses kam, teilte man mir mit, dass es leider keine barrierefreie Toilette in diesem Teil des Krankenhauses gebe. Das sei ja die Innere, nicht die Orthopädie. Ich hatte mir architektonisch die falsche Krankheit ausgesucht.

Mit der idiotischen Planung dieses Krankenhauses hat der Architekt nicht nur mich behindert, sondern die Mitarbeiter gleich mit, die mich dann nämlich auf die weiter entfernt liegende Station bringen mussten, wo ich endlich zur Toilette gehen konnte. Das kostet Zeit, die das Personal ansonsten sicher besser genutzt hätte.

Aber bei der Problematik der nicht zugänglichen Praxen geht es nicht nur um behinderte Menschen. Wie soll dieses nicht barrierefreie Gesundheitssystem in Zukunft mit den vielen älteren Menschen klar kommen, die nicht mehr so gut zu Fuß sind? Sollen die alle Hausbesuche kriegen? Wie sollen die in die 85 Prozent der Zahnarztpraxen kommen, die nicht zugänglich sind? Wie zu den 78 Prozent der nicht zugänglichen Allgemeinmediziner? Die Leute haben Jahrzehnte ins System einbezahlt, um am Ende vor Stufen zu stehen, die sie nicht mehr hochkommen.

Nun will die Bundesregierung die Arztpraxen barrierefreier machen. Eine gute Idee, aber gefühlt 20 Jahre zu spät. Dagegen haben auch die Ärzte nichts, wenn es sie denn nichts kostet. Ein Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sagte, keiner dürfe für seine Standortwahl bestraft werden. Tatsache ist aber: Derzeit werden Patienten bestraft, die durch das jahrzehntelange Ignorieren ihrer Bedürfnisse, einen erheblich erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem haben. Es ist weder neu, dass es behinderte Menschen gibt, noch dass die Gesellschaft zunehmend altert. Wer das über Jahrzehnte ignoriert, zahlt dann unter Umständen am Ende die Rechnung für den Treppenlift, den er vielleicht besser schon vor 20 Jahren angeschafft hätte.