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Welche Lust am Klang!

 

Zwischen dem Jazz und der Elektronik klafft eine historische Wunde, die allmählich verheilt. Auf „Heaps Dub“ spielt das Quartett Root 70 die Kompositionen des Kölners Burnt Friedman – und alles wird gut

Cover Root70

Man hört die ersten Töne, Posaunenstöße, und sie klingen so samten, als kämen sie nicht aus metallenem Rohr, sondern aus dem gut gepolsterten Futteral, das es auf Reisen vor Beschädigung schützt. Man hört diese Töne, so rotzig-zart, so verlockend, Herr im Notenhimmel: was für ein Versprechen! Welche Lust am Klang!

Dann schnippt das Becken den Takt vor, die Trommel setzt ein, der Kontrabass hüpft in den Rhythmus, und jede Schwingung wird in der Lendengegend gezupft.

Sind wir mit der Klarinette komplett? Sie ertönt aus einem noch flauschigeren Futteral, sie lispelt, sie nuschelt, sie haucht, sie hat kaum was an: was für ein Start!

Posaune, Schlagzeug, Kontrabass, Klarinette – so weit wäre dies eine Jazzband, wenn auch in ungewöhnlicher Besetzung. Dabei bleibt’s indes nicht: Kaum sind alle vier im Spiel, tut sich nicht das Übliche. Kein obligates Solo, kein Refrain, diese Musik ist fast nur Klang und Rhythmus, Groove nennt man das wohl auch.

Eine Melodika – jenes an den Lippen hängende Akkordeon – verschiebt die Jazz-Ästhetik hin zu Dub, zu Reggae. Bongos mischen sich ein, beschwören den Busch, die tropische Nacht. Das Tempo ist der Hitze gemäß entspannt, aber wie dringt es ein in jede Faser!

Wer Get Things Straight, das erste Stück, gleich noch einmal hört, merkt überdies: Hier ist nichts so, wie es zunächst zu sein schien. Das Akustische erweist sich als untergründig perforiert; schon die ersten, so sinnlichen Posaunenstöße haben ein artifizielles, waberndes Echo.

Willkommen in der Welt von Burnt Friedman, der eigentlich Bernd Friedmann heißt und von einem Kölner Schlafzimmer aus zeitgemäßen Klang zu neuen Höhen führt. Es sind seine am Computer zusammengesetzten Kompositionen, dokumentiert auf etlichen Platten, die Root 70, das virtuose Quartett um den Posaunisten Nils Wogram, hier nachspielt. Hayden Chisholm, der Klarinettist, hat die Stücke adaptiert. Matt Penman und Jochen Rückert erzeugen von Hand den unwiderstehlichen Schub – als wären ihr Bass und ihr Schlagzeug an eine sehr elastische Steckdose angeschlossen.

Nach zwei Tagen im Studio hat Friedman die Aufnahmen mitgenommen und den Datensatz am Bildschirm nachbearbeitet; deshalb ist dieses Album kein „digital unplugged“, sondern eher ein Remix desselben – aber egal. Das Verfahren verblasst gegenüber seinem Ergebnis. Heaps Dub ist eine gekonnte Melange unterschiedlicher Stile, angenehm, inspirierend, grandios inszeniert. Sie kann den Hörer gleichermaßen ins nächste Konzert von Root 70 führen wie zu den rhythmischen Experimenten Friedmans, die sich übrigens auch in der eigentümlichen Struktur des Albums widerspiegeln: in zehn Stücken zu je genau fünf Minuten.

Die historische Wunde zwischen Elektronik und Jazz, zwischen Bits und Blues, die lange schmerzend klaffte und sich seit einigen Jahren allmählich schließt – hier ist sie kaum noch zu spüren.

„Heaps Dub“ von Root 70 ist als LP und CD erschienen bei Nonplace.

Hören Sie hier „Get Things Straight“

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