Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Minimal im Überschwang

 

Vor zehn Jahren erschienen und heute noch toll: Matthew Herberts sparsames House-Album „100 lbs“ wird dieser Tage wiederveröffentlicht

Cover Audrey

Anfangs war es unter Techno- und Houseproduzenten verpönt, ihre Momentaufnahmen anders als auf den kurzlebigen Vinyl-Maxis festzuhalten. Die Euphorie von gerader Bassdrum, Schweiß und Liebe in Albumlänge, das erschien als Widerspruch. Der Brite Matthew Herbert erkannte jedoch früh, dass eine Reihe von „günstigen Augenblicken“ oft erst im Rückblick miteinander ihren ganz speziellen Gerinnungsfaktor zwischen Genese und Geschichtswerdung ausbilden.

Unter den Pseudonymen Wishmountain und Doctor Rockit hatte er Abenteuerliches aus verspieltem Elektro und hart knallender Musique Concrete fabriziert, um schließlich als Herbert seine House-Maxis Part One bis Part Three zu veröffentlichten. 100 lbs vereint all dies zum ersten Langspielwerk, mit ihm zog er im Jahr 1996 ein Resümee seiner bisherigen Laufbahn im Klangbastelstudio und auf der DJ-Kanzel.

Zehn Jahre sind seitdem in rasenden elektronischen Schritten vergangen, jetzt bringt das Label !K7 Herberts Höhepunkte quasi zum dritten Mal und gleich als Doppel-CD heraus: 100 lbs und eine Bonus-Silberscheibe mit Aufnahmen von 1995 bis 2000. Im Unterschied zum saftigen, schwülen Discosoul aus der Wiege der klassischen House Music in New York und San Francisco schuf er den wohl trockensten Minimalismus, den diese Musik des Überschwangs vertragen kann. Sein Klangspektrum speist sich aus kühlen akustischen und hellen elektronischen Quellen, entsprungen in einem anderen Universum als die charakteristischen schrill nach oben geschraubten Vokalchöre und das sonst übliche HiHat-Gezischel.

Kalte Schüsse wie aus ungeladenen Feuerwaffen klicken ins Leere, verpuffen als klapperndes Elektro-Stakkato in der stehenden Luft zwischen den Beats. Dennoch sind Herberts Vierviertel nicht weniger warm und treibend, der funky Bass knötert und gniedelt in Thinking Of You, orgelt sich ganz nah ans Herz. Anderswo knistern Keyboard-Cluster im Rückwärtslauf, Sirenen vom Synthesizer zirpen von fern über die Stimmen freundlicher, fast zärtlicher Animateure aus dem Computer: Let‘s disco! Das wirkt nur noch erhitzender im kühlen Ambiente der sparsamen Effekte, gerade so, als schwebten die Leuchtblasen einer Lavalampe befreit durch einen metallgrauen Winterhimmel.

Wie eine hochsensible Skala misst das Stück Friday They Dance durch den Raureif seiner zehnjährigen Geschichte den Freitagabendpuls auf und neben dem heutigen Dance Floor. Die Stile elektronischer Tanzmusik haben seitdem häufig gewechselt, Herberts 100 lbs war und bleibt ein Gegenpol der entspannten Reflexion zu den markanteren, wuchtigeren Sounds von Drum&Bass und BigBeat.

Auch wenn die B-Seiten und Raritäten auf der Bonus-CD manchmal dezent den Acid-Turbo quietschender Rhythmusmaschinen anschmeißen und die Partystimmung höher kochen lassen, Ursprung und Idee eines Klangs sind Matthew Herbert nach wie vor am wichtigsten. In seinem diesjährigen Werk Scale hüpfen Pop und Politik als bunt getarnte Flummis, die ihre geräuschhafte Herkunft nicht preisgeben, auf die Tanzfläche. Doch hier winkt jetzt erstmal mit der vieldeutigen Floskel See You On Monday das letzte der Jubiläumsstücke lässig zum Abschied.

„100 lbs“ von Herbert ist als Doppel-CD erschienen bei !K7

Hören Sie hier „Friday They Dance“ von „100 lbs“ und „I’ll Do It“ von der Bonus-CD

Weitere Beiträge aus der Kategorie HOUSE
Herbert: „Scale“ (Accidental/!K7 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik