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Sockenbrand am 24.

 

Sufjan Stevens überrascht mal wieder alle: Mit einer Fünf-CD-Box zum Fest der Feste. Seine „Songs For Christmas“ sind teils recht krass

Sufjan Stevens - Christmas

Im Herbst des Jahres 2001, der die Welt erschütterte, erlebte der Musiker Sufjan Stevens auch einen sehr persönlichen Moment der Krise. Einsam, unbekannt und stoppelbärtig saß der arbeitslose Mittzwanziger in einem Zimmer in Brooklyn, aß tagealtes Brot oder Instantnudeln, und an einem Morgen Anfang Dezember wollte er sich das billigste aller Frühstücke machen, Pfannkuchen aus der Tüte, bloß rauspulvern, Wasser dazu und umrühren, als es zu einer folgenreichen Verpuffung kommt.

Der Plastiklöffel mit dem Pulver fängt am Herd Feuer, zertropft, flammt auf in einer chemischen Reaktion wie bei einem missglückten Experiment im Schulunterricht. Der hungrige Musiker versucht, die Reaktion mit einem Glas Milch zu löschen und findet sich inmitten einer giftig schmeckenden Wolke. Der Geruch wirft ihn um viele Jahre in die Vergangenheit zurück, ins elterliche Haus zu Weihnachten, da die Mutter gerade in einem zerstörerischen Verzweiflungsakt gegen den Festtagsstress ein noch verpacktes Geschenk vom geschmückten Tannenbaum reißt und wutentbrannt in den Ofen schmeißt.

Es sind die sechs Socken, die der kleine Sufjan seinem älteren Bruder schenken wollte als Wiedergutmachung dafür, dass er ihm von allen Strümpfen die Spitzen abgeschnitten hatte – aus Rache, weil der Bruder herumerzählt hatte, dass Sufjan noch Daumen lutschte und mit einem Kuscheltier schlief. Die Socken waren aus synthetischen Fasern; sie schmolzen im Ofen, begannen zu brodeln und bestialisch zu stinken. Die unter den Feiervorbereitungen an den Rand ihrer Nervenkraft gelangten Familienmitglieder liefen hinaus in den meterdicken Schnee und schnappten nach Luft. Sie rissen alle Fenster auf; es brauchte eine Stunde, bis der gröbste Gestank verschwunden war. Und noch heute, glaubt man Sufjan Stevens, riecht es nach den verfeuerten Socken.

Er erzählt die Geschichte in dem hintergründig dekorierten Büchlein, das seiner Fünf-CD-Box mit Weihnachtsliedern beigelegt ist. Sein Verhältnis zum Fest der Liebe scheint so kompliziert wie das vieler seiner Hörer. Es brauchte die Initialzündung im Advent 2001, um aus dem Festverweigerer einen trotzigen Weihnachtsliedsänger zu machen. Gleich nahm er sieben Songs auf, brannte sie auf CDs, schickte sie Freunden und Verwandten, 17 Minuten sehr widersprüchlicher Gesänge. Stille Nacht macht lieblich den Anfang, Amazing Grace den Schluss, dazwischen Garstiges von ihm wie It’s Christmas, Let’s Be Glad, das – frei übersetzt – so geht: »An Weihnachten freuen wir uns eben / Selbst wenn bös gewesen euer Leben / Wird’s Geschenke geben / Geht raus in den Schnee / Und hört Sankt Niklas’ ›He! He! He!‹«

Was so spontan begonnen hatte, erhob Sufjan Stevens alsbald zu einem Brauch; alle Jahre wieder zerrte er Nachbarn und Bekannte mit Glöckchen vors Mikrofon, stimmte Jingle Bells an und Joy To The World und machte unter Hinzugabe eigener Lieder ein banjogestütztes CDlein daraus.

Nun hat er, beflügelt vom Erfolg seiner boshaft-grandiosen Hymnen auf die amerikanischen Bundesstaaten (Greetings From Michigan, 2003; Come On Feel The Illinoise, 2005), die fünf weihnachtlichen Kleinalben in einer prachtvollen Schachtel veröffentlicht. In ihr findet sich vieles von dem, was diese Zeit des Jahres an Schönem und Schrecklichem zu bieten hat. Das Songbook enthält dazu die Texte und die Gitarrengriffe für ein stimmungsvolles Singalong rund um die familiären Eruptionen.

„Songs For Christmas Singalong“ von Sufjan Stevens ist erschienen bei Asthmatic Kitty/Cargo

Hören Sie hier das im Text zitierte „It’s Christmas, Let’s Be Glad“, geschrieben von Sufjan Stevens, und seine beschwingte 36-Sekunden-Version des Klassikers „Jingle Bells“

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