HipHop ist die Musik der regionalen Phänomene. Jeder Ort der Welt bringt seine eigene Spielart hervor. Schon immer klang Rap-Musik aus der Mutterstadt New York anders als die aus Los Angeles. Lange standen diese beiden Metropolen für Rap-Musik schlechthin. Später kamen Detroit, Atlanta und Philadelphia ins Rampenlicht. Musik ist von äußeren Umständen abhängig, selbst das Wetter spielt eine Rolle. HipHop hat sich zu einer weltweiten Sprache mit unterschiedlichen Dialekten entwickelt.
Rapper in England haben sich schwer getan, zu einer eigenen Form zu finden. Lange orientierten sie sich an den großen Brüdern aus Amerika. Beachtliche Einzelleistungen waren die Ausnahme, eine Bewegung war nicht zu erkennen.
Dann kam Grime. Eine Welle neuartiger Musik, die Anfang des Jahrzehnts aus den Piratenradios der Insel geblubbert kam. Einzelne Läden verkauften Mixtapes und unbeschriftetes Vinyl für DJs. Bald wurde Grime international wahrgenommen. Der ganz große Erfolg fehlt allerdings noch.
Diese Musik hat keine Mitte. Sie ist durch und durch extrem. Die Bässe wummern tiefer als anderswo. Darüber werden klirrend hohe Synthesizer und Samples geschichtet. Gerappt wird schnell. Entspannung ist hier nicht zu finden. Wenn ein Grimer eine Ballade versucht, klingt sie gehetzt. Grime ist Clubmusik. Wer so etwas zuhause hört, geht irgendwann die Wände hoch.
Jede Bewegung hat ihre Helden. Dizzee Rascal und Wiley veröffentlichten ihre Debütalben 2003 beim mächtigen Label XL Records. Stars sollten sie werden, und Grime sollte die Welt erobern. Doch die Verkäufe entsprachen nicht den Erwartungen. Wiley zerstritt sich mit seinem alten Kumpel Dizzee und verlor den Plattenvertrag.
Und nun kommen beide gleichzeitig mit neuen Alben zurück. Wiley macht auf Playtime Is Over Grime in Reinkultur. Die Bässe sind runder als vor drei Jahren, ansonsten hat sich wenig getan. Wer ein puristisches Grime-Album hören will, ist hier richtig. Rhythmisch vertrackt und jederzeit ungemütlich geht es zu. Die Stimme findet kaum Luft.
Rap lebt sehr vom Text. Wiley erzählt von seinem neuen Plattenvertrag. Wiley erzählt, wie er die Grime-Musik geprägt hat. Wiley erzählt, dass er sich nun vom Mikrofon zurückziehen wird, um jungen Künstlern den Vortritt zu lassen. Wiley ist neunundzwanzig und redet wie ein Methusalem von seinem Vermächtnis. Nicht sehr spannend.
Auf Letter To Dizzee wendet er sich an seinen alten Rivalen, wie im klassischen Drama. Hey, Kumpel, guck mal, was wir alles gerissen haben. Vergiss nicht, ich bin dein großer Bruder. Ruf mich an, und alles ist verziehen. Doch Dizzee Rascal ruft nicht an. Auf seinem Album Maths And English findet er für Wiley nur Schimpfworte.
Dizzee Rascal will nach vorn. Er öffnet den Grime für Spielarten des amerikanischen HipHop. Die Klänge der frühen Neunziger transportiert er im Stück Pussyole (Oldschool) ins britische Jetzt. In texanischer Hitze trifft er auf die Gruppe UGK, Sirens ist dröhnend und gewaltig. Sogar am Jungle versucht er sich.
Maths And English ist ein abenteuerliches Album. Die Musik ist voller Zitate und streckt sich doch nach der Zukunft. Es gibt Enthusiasmus, Hunger und Handwerk. Und Stories. Rascal weiß sie zu erzählen, seine Stimme durchbohrt Wände. Lediglich die Duette mit der Sängerin Lily Allen und Alex Turner von den Arctic Monkeys sind misslungen. Es scheint schwer, eine Stimme zu finden, die mit Dizzees harmoniert.
Wer wird nun der Superstar des Grime – Wiley oder Dizzee Rsacal? Es ist wie im richtigen Leben: Man hört lieber dem zu, der nach vorne schaut. Wer ständig Sentiment und Frustration der Vergangenheit beschwört, dem schließen sich alsbald die Türen. Wiley hätte besser daran getan, sich nicht mit Dizzee Rascal zu messen. Dizzee Rascal hingegen kann von sich behaupten, dass er mit neunzehn einer war, der den Grime erfand. Und dass er ihn mit zweiundzwanzig zu neuer Höhe führt.
„Maths and English“ von Dizzee Rascal ist erschienen bei XL Recordings/Indigo, „Playtime Is Over“ von Wiley ist erschienen bei Ninja Tune/Rough Trade
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