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Liebesbriefe nach Kanada

 

Der Jazzpianist Herbie Hancock bewundert die Popsängerin Joni Mitchell. Er hat ihr sein neues Album gewidmet und Norah Jones, Tina Turner und Leonard Cohen ans Mikrofon gebeten.

Hancock River

Wenn man von Nordamerika spreche, dann müsse man von den Unterschieden zwischen US-Amerikanern und Kanadiern sprechen, sagt Herbie Hancock. Die US-Amerikaner seien selten wirklich nett, die Kanadier hingegen bezeichnet er als liebenswert und friedfertig. Joni Mitchell ist Kanadierin, ihr hat er seine neue CD gewidmet. Acht der zehn Stücke auf River: The Joni Letters sind von ihr. Die beiden kennen sich schon lange, im Jahr 1979 waren sie für die Platte Mingus zum ersten Mal gemeinsam im Studio.

In ihren Gedichten und Liedtexten berichtet Joni Mitchell von dem, was sie durchlebt hat. Wie sie als 21-Jährige ihre Tochter zur Adoption freigab und später wiederfand. Die Geschichte ihrer kürzlich verstorbenen Mutter. Wie ihr eine Wahrsagerin während des 2. Weltkriegs prophezeit hatte, dass sie binnen eines Monats heiraten würde. Tatsächlich traf sie einen Soldaten auf Heimaturlaub, ein Jahr später wurde ihre Tochter geboren. Herbie Hancock sagt, Joni Mitchell ließe das Publikum an ihren Erfahrungen teilhaben, sie versuche, eine Gemeinsamkeit herzustellen zwischen Künstlern und Menschen, die ein normales Leben führten. Es gehe ihr um die Gebote der Menschlichkeit.

Joni Mitchell ist eine enttäuschte Frau. Hancock versteht sie. Die Menschheit sei in großer Gefahr, man müsse neue Wege des respektvollen Zusammenlebens finden. Ihm ist sie eine Heldin. Sie sei niemand, der das Scheinwerferlicht suche, sondern eine starke Frau, die für ihre Überzeugungen kämpfe.

Auf seiner neuen CD interpretiert er Wayne Shorters Komposition Nefertiti, einen Klassiker aus Hancocks gemeinsamer Zeit mit dem Saxofonisten im Miles-Davis-Quintett der sechziger Jahre. Es sei eines der Lieblingsstücke Joni Mitchells, berichtet er. Jetzt spielt er es noch einmal mit seinem Freund Shorter. Wo im Original vor 40 Jahren ein Schlagzeugsolo pulsierte, ruhen nun Melodie und Klangaura. Joni Mitchell hatte Shorter häufiger zu Plattenaufnahmen eingeladen.

Herbie Hancock ist mittlerweile 67 Jahre alt. River: The Joni Letters ist seine erste Platte, auf der die Texte eine Rolle spielen. Die Arbeit an dem Album sei eine Herausforderung gewesen, erzählt er. Es sei ihm darum gegangen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Musik die Hörer dazu motiviere, auf die Worte zu achten. Deshalb spielte er die Lieder langsamer ein als Joni Mitchell. Sie wirbelte damals ihre tiefgründigen Texte um sich, hier wäre das auf Kosten der Inhalte gegangen. Dadurch, dass er die CD wie eine imaginäre Filmmusik zu ihrem Werk anlegte, schuf er Raum. Weniger ist mehr, das war sein Motto.

Hancock singt die Stücke nicht selbst, er überlässt prominenten Gästen den Platz am Mikrofon: Norah Jones, Tina Turner, Corinne Bailey Rae, Leonard Cohen. Zu den herausragenden Momenten der CD gehören Hancocks Solo in The Jungle Line – Leonard Cohen spricht den Text ein – und Norah Jones’ Gesang bei Court and Spark. Und natürlich das Stück The Tea Leaf Prophecy, das Joni Mitchell selbst singt.

„River: The Joni Letters“ vom Herbie Hancock ist erschienen bei Verve/Universal.

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