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Zugabe, Herr Lehrer!

Im vergangenen Jahr spielte der Saxofonist Bunky Green mit einer jungen Band in Salzau ein denkwürdiges Konzert. Nun erscheint der Mitschnitt »Live At Jazz Baltica«.

Bunky Green Salzau Jazz Baltica

Es ist eine Geschichte aus der Zeit, in der es noch kein Internet gab: Auf einmal war der Altsaxofonist Bunky Green verschwunden. Nicht in den sozialen Untiefen einer amerikanischen Großstadt, nicht in einer Klinik auf dem Land – er wurde Dozent. Im Jahr 1972 begann er an der Chicago State University zu lehren, seit Anfang der neunziger Jahre leitet er den Fachbereich Jazz an der University of North Florida. Mittlerweile ist er 73 Jahre alt.

Bunky Green gilt als einflussreich, obwohl er nur wenige Alben aufgenommen hat. Seine Vorbilder waren einst Charlie Parker und Eric Dolphy, Greens Spiel wiederum inspirierte Musiker wie Greg Osby und Steve Coleman. Coleman war es auch, der vor vier Jahren Bunky Greens Comeback Another Place produzierte. Der junge Jason Moran hatte damals das Klavier gespielt, er schwärmt noch heute von den Aufnahmen. Die amerikanische Fachpresse hatte das Werk in höchsten Tönen gelobt, im Sommer 2007 spielte Green schließlich seine neuen Stücke beim Jazz Baltica Festival im norddeutschen Salzau. Dieses Konzert wird nun auf CD veröffentlicht.

Die in Berlin lebende Bassistin Eva Kruse schätzte Bunky Green schon seit langer Zeit als Komponist ihres Lieblingslieds Little Girl I’ll Miss You. Mit Green, dem Pianisten Carsten Daerr und dem Schlagzeuger Nasheet Waits bildete sie das Salzau Quartet, bei ihrem Lieblingsstück spielte sie selbst die Einleitung und ein schönes Solo. Ähnlich wie Jason Moran war das Zusammenspiel mit Green ihr eine generationsübergreifende Schlüsselerfahrung.

Aus jedem Stück dieser CD klingt Greens überzeugte Haltung zur Freiheit der Improvisation. Mal erfrischend, mal zurückhaltend, immer traditionsbewusst führt er durch die Melodien. Wahrscheinlich stimmt es sogar, dass dem Pionier des Free Jazz, Ornette Coleman, dieser Konzertmitschnitt aus Salzau so gut gefallen habe, dass er riet, ihn zu veröffentlichen.

»Live At Jazz Baltica« von Bunky Green’s Salzau Quartet ist bei Traumton/Indigo erschienen.

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Hunde im Porzellanladen

Der amerikanische Gitarrist Marc Ribot sorgt immer wieder für Überraschungen. Mit dem neuen Trio Ceramic Dog hat er nun sein bisher bestes Album aufgenommen: »Party Intellectuals«.

Marc Ribot's Ceramic Dog

Marc Ribot (sprich: Ree-bow) hasst Klischees. Er möchte nicht als zorniger Gitarrist gelten, der seinen Protest in verzerrten Tönen ausdrückt. Im vergangenen Jahr trat er auf beim Konzert gegen die Schließung der letzten größeren Bühne für experimentelle Musik in Manhattan – und wurde anschließend verhaftet. Er hatte den Standard The Nearness of You gespielt. Solch subtile Kritik wirke oft stark, sagt Ribot. Seine deutlichen Worte gegen den Krieg verpackt er in ein Westernstück, Bury Me Not On The Lone Prairie.

Er kann auch anders. Ribots neue CD Party Intellectuals beginnt mit einer punkigen Version eines Klassikers der Doors, Break On Through, das stiftet Verwirrung. Es hieß, seine neue Band Ceramic Dog klinge nach dem Disco-Soul der späten Siebziger, damit hat das wenig zu tun. Auch Never Better und Digital Handshake kommen geräuschvoll und wild entschlossen daher, das Titelstück der CD ist Punk mit Moog-Synthesizer.

Es gibt auch Zugänglicheres: Das bezaubernde Todo El Mundo Es Kitch lebt von absurden Reimen wie »In Barcelona we view for Gaudí, in Frankfurt we drove in an Audi«. In When We Were Young And We Were Freaks ist der Titel auch die Botschaft, Girlfriend thematisiert die Gentrifizierung der Lower East Side und das Verschwinden der New Yorker Avantgarde aus dem Stadtteil.

Vor 20 Jahren erfand Ribot den Klang von Rain Dogs und führte Tom Waits an den Pop heran. Durch die Arbeit mit ihm habe er gelernt, wie man Platten mache, sagt Ribot heute. Tatsächlich hörten sich die besten Stücke seiner vergangenen Platten immer ein bisschen so an, als fehle Tom Waits’ Stimme. Auf Party Intellectuals gibt Ribot den Waits, in den Trichter singt er jetzt selbst. Und erschiene die CD bei einer großen Firma, würde For Malena zum Sommerhit.

Die Ästhetik der Massenware interessierte Ribot nie, seine Musik spielt an den Rändern der Gesellschaft. Die Aufnahmen seines mit Moog, Gitarre, Bass, Elektronik und Perkussion ausgestatteten Trios sind in Avant-Rock verpackte Sozialkritik mit manch kontemplativem Moment. Ceramic Dog ist Ribots beste Band seit Jahren, Party Intellectuals eines seiner besten Alben.

»Party Intellectuals« von Marc Ribot’s Ceramic Dog ist bei Yellowbird/Soulfood Music erschienen.

Die Band stellt das Album am 13. Juli im Berliner Haus der Kulturen der Welt vor.

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Mutloser Retter

Der Saxofonist James Carter galt Mitte der Neunziger als Hoffnung des schwarzen Jazz. Mit „Present Tense“ möchte er nun die Widerstandskraft dieser Musik beleben – und schwimmt doch nur mit dem Strom.

James Carter Present Tense

Dass er im Jahr 2004 mit dem Dr. Alaine Locke Award für seine herausragenden Leistungen im Dienste der afroamerikanischen Gemeinschaft ausgezeichnet wurde, erfüllt den 39-jährigen Saxofonisten James Carter noch immer mit Stolz. Dass er seit Mitte der neunziger Jahre zu den einflussreichsten Jazzmusikern zählt, hat ihm jedoch kaum geholfen. „Zu früh, zu schnell, zu viel“ – so urteilten Kritiker und Musikerkollegen angesichts seines rasanten Aufstiegs nach seinem Debüt JC On The Set und seinem balladesken Meisterwerk A Real Quietstorm. Mit JC On The Set hatte er damals die Hoffnung geweckt, die zerstrittene amerikanische Jazz-Szene zu einen. Von einem Jazz-Krieg war die Rede. Carter fand Anerkennung auf beiden Seiten, bei den Neotraditionalisten wie der verfeindeten schwarzen Avantgarde.

Doch Carter hatte kein Glück als Leiter einer Band. Als der Ruhm kam, verließen ihn seine experimentierfreudigen Musiker. In den letzten Jahren war er mit seiner Orgeljazz-Band unterwegs und spielte den Unterhalter, er gab ein besorgniserregendes Bild ab. Gleich, ob er improvisatorische Kunststückchen aus seiner Kuriositäten-Schatztruhe holte oder einen Blues sang, Carter drehte sich zunehmend um sich selbst. Das angebliche Publikumsinteresse diente ihm als Alibi – in Wirklichkeit fehlte ihm der Mut.

Bei seinem neuen Album Present Tense standen ihm nun eine große Plattenfirma und der anerkannte Jazzproduzent Michael Cuscuna zur Seite. Auch ihre Unterstützung kann die Beliebigkeit des Materials nicht verdecken. Wen interessieren schon seine drei Eigenkompositionen auf der CD, wenn gerade diese überhaupt nicht auffallen? Es ist der Brei aus großem Können und fehlender Vision, der nicht mundet und doch erstaunt. Present Tense beginnt mit einem großartigen Solo des Pianisten D.D. Jackson. Seine Wucht weckt die Hoffnung, hier würde man endlich befreit vom Standard-Gedudel der vergangenen Jahrzehnte. Man spürt, weshalb Carter vor zehn Jahren als Retter des Jazz gehandelt wurde. Doch dann bröckelt es schnell wieder, zerfasert in Bossa, Hotelbar und eine Traditions-Verliebtheit, deren kritisches Potenzial sich nicht einmal Eingeweihten erschließt.

Carter redet oft vom HipHop, von schwarzer Kultur und der Widerstandskraft des Jazz. Er möchte alle bedienen, so regiert am Ende doch der Mainstream.

„Present Tense“ von James Carter ist bei Emarcy Records/Universal erschienen.

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Das Neue kommt ohne Tusch

Der Saxofonist Steve Lehman arbeitet an der Zusammenführung von Komposition und Improvisation. Sein neues Album „On Meaning“ zeugt von der Suche nach dem Unerhörten.

Steve Lehman On Meaning

Der in New York geborene Altsaxofonist Steve Lehman gehört zu einer neuen Generation experimentierender Jazzmusiker. Er beklagt sich nicht über die fehlende staatliche Unterstützung seiner Kunst, sondern wirbt die Fördergelder ein. Während der Schlagzeuger seines Quintetts Tyshawn Sorey tagsüber in einem Instrumentengeschäft arbeitet, damit er sich abends von kommerziellen Erwägungen unbeeinflusst um den musikalischen Fortschritt kümmern kann, widmet sich Lehman ganz der Musik.

Unlängst erhielt er die finanzielle Unterstützung der Chamber Music America, um ein Stück für Oktett zu komponieren. Den Kern des Oktetts bildet Lehmans Quintett mit Tyshawn Sorey, dem Trompeter Jonathan Finlayson, dem Vibrafonisten Chris Dingman und dem Bassisten Drew Grass. Sorey und Finlayson spielten bereits mit Steve Coleman, Dingman schloss kürzlich sein Studium am Thelonious Monk Institute in Kalifornien ab. Lehman arbeitet seit fünf Jahren mit diesen Musikern zusammen, gemeinsam nahmen sie seine neue akustische CD On Meaning auf.

Sein Interesse gelte nicht nur dem Musizieren, berichtet Lehman. Er ist jetzt 29 Jahre alt, wiederholt lebte er für längere Zeit in Frankreich. Während seines letzten Aufenthalts studierte und unterrichtete er am Pariser Konservatorium. Daneben forschte er über die Arbeitsbedingungen der schwarzen Chicagoer Association For The Advancement Of Creative Musicians (AACM) im Paris der siebziger Jahre. Seit einem Jahr untersucht Lehman an der Columbia University interaktive Kompositionskonzepte. Seinem dortigen Mentor George Lewis widmete Lehman das Album On Meaning.

Er sei auf der Suche nach neuen Umgebungen für Improvisatoren, sagt Lehman, ihm sei die Integration von Komposition und Improvisation wichtig. Um neue Wege des Zusammenspiels aufzutun, verlasse er sich auf die individuellen Stärken der Musiker. Bei der Lektüre des Buchs Rationalizing Culture: IRCAM, Boulez, and the Institutionalization of the Musical Avant-Garde der Anthropologin Georgina Born sei ihm klar geworden, dass er an den technologischen und kompositorischen Fortschritt glaube, an neue Technologien, die dem Künstler neue Entwicklung ermöglichten.

Ihm und vielen seiner jungen Kollegen sei die Weiterentwicklung der Musik eine Lebensaufgabe. Sie seien auf der Suche nach persönlichen und einzigartigen Klangstrukturen, nach dem Unerhörten. Das subjektiv als neu Empfundene kommt selten mit einem Tusch daher, auch davon berichtet On Meaning.

„On Meaning“ von Steve Lehman ist bei Pi Recordings/Sunny Moon erschienen.

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Zu alt für Prügeleien

Das Globe Unity Orchestra feiert seinen Geburtstag: Seit 40 Jahren machen die Musiker um Alexander von Schlippenbach Free Jazz in Bigband-Besetzung.

Das Jubiläum wurde dort gefeiert, wo alles begonnen hatte. Im Jahr 1966 war das Globe Unity Orchestra als erste deutsche Free-Jazz-Formation in Bigband-Besetzung für einen Auftritt beim Berliner JazzFest entstanden, 40 Jahre später stand die Gruppe um den Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach dort wieder auf der Bühne. Die CD Globe Unity – 40 Years fasst das Wirken des Orchesters zusammen und präsentiert neues Material. Aufgenommen wurde sie bei Konzerten in Berlin und Baden-Baden.

Als er mit dem Free Jazz angefangen habe, seien traditionelle Formen verboten gewesen, erzählt Alexander von Schlippenbach. Das habe sich geändert, das Genre sei ein bisschen ausgefranst in letzter Zeit. So konzentriere er sich auf das, was ihm wichtig sei: die Improvisation. Derzeit spielt er mit zwei Schlagzeugern und einem guten Dutzend Bläser zusammen, erst kürzlich stießen der Bassklarinettist Rudi Mahall, der Posaunist Jeb Bishop und der Trompeter Axel Dörner zur Formation. Viele seiner Musiker haben die 60 überschritten, ihre Soli klingen stolz. Von Schlippenbachs Arrangements profitieren vor allem jene der 15 Solisten, die sich nicht gegen die Klangstürme des Orchesters behaupten müssen, sondern Entwicklungsraum für den eigenen Ton bekommen. Der durch einen Schlaganfall geschwächte Trompeter Kenny Wheeler nutzt diese Gelegenheit in Nodago mit nach wie vor zauberhaftem Ton, ebenso Axel Dörner in Steve Lacys The Dumps.

Nicht alle bekommen so viel Raum. Der schwarze Posaunisten George Lewis erläutert, dass der Free Jazz Disziplin fordere. Schlippenbach habe ihm untersagt, bei den neuen Aufnahmen seine „little instruments“, kleine Flöten und Ähnliches, zu benutzen. Es sei aber kein Problem gewesen, diesen Wunsch zu respektieren. Überhaupt scheint Harmonie eingekehrt zu sein, früher ging es schon mal hoch her beim Globe Unity Orchestra. Im Büchlein zur Platte 20th Anniversary hatte Schlippenbach 1988 noch von handgreiflichen Auseinandersetzungen berichtet, der Saxofonist Peter Brötzmann und der Bassist Peter Kowald seien danach eigene Wege gegangen.

Ein letztes Mal zu hören ist der im vergangenen Jahr verstorbene Posaunist Paul Rutherford. In jüngster Zeit hatte er sich noch beklagt, dass er in London keine Auftritte mehr bekäme und in einem Nachtclub als Türsteher jobben müsse. George Lewis erweist Rutherford in den Erläuterungen zur CD die letzte Ehre und berichtet, wie sein Spiel vor gut 30 Jahren Lewis’ Ansichten über die Klangerzeugung mit der Posaune nachhaltig verändert habe.


Sehen Sie in einer Bildergalerie, was die Mitglieder des Globe Unity Orchestra zum Jubiläum sagen »

„Globe Unity – 40 Years“ vom Globe Unity Orchestra ist bei Intakt erschienen.

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Gurren aus dem Unruhestand

Der schwarze Trompeter Bill Dixon entlockt seinem Instrument stets unerhörte Klänge. Seinen neuen Aufnahmen mit dem Exploding Star Orchestra hört man an, dass er gar nicht anders kann.

Bill Dixon with Exploding Star Orchestra

Vor zwölf Jahren ging der Trompeter Bill Dixon in den Ruhestand, da war er 71 Jahre alt. Aufnahmen des kompromisslosen Musikers waren nur wenige erschienen, doch seine Klänge hatten viele Menschen beeinflusst. Dixon produzierte Klänge, gewaltige und unheimliche, quietschende, gurrende und gurgelnde, lange und laute. Wenn heute ein Trompeter seinem Instrument Geräusche entlockt, klingt Dixon fast immer durch. Man kann Axel Dörner fragen oder Rob Mazurek: Dixon habe Türen aufgestoßen in eine Welt, die man sogar im fortschrittsgläubigen Jazz nicht gekannt habe, darin stimmen sie überein.

Der Chicagoer Trompeter Rob Mazurek traf Dixon vor einiger Zeit. Was er hörte, verglich er mit Schwärmen heiliger weißer Vögel auf dem Flug in eine exzellente Ewigkeit. Es gelang ihm, Dixon zum Spiel mit seinem Exploding Star Orchestra zu bewegen. So erscheint nun eine neue Aufnahme des Pensionärs, Bill Dixon With Exploding Star Orchestra.

Die Trompete könne mehr, sagt Dixon, es habe sich nur noch nicht durchgesetzt. Ihr sei es egal, was man mit ihr anstelle, sie sei nur ein Stück Metall. Die Schreibmaschine kümmere es schließlich auch nicht, ob auf ihr religiöse Gedichte, erotische Romane oder politische Pamphlete getippt würden.

Im Jahr 1964 initiierte Dixon die Konzertreihe October Revolution in Jazz, einen musikalischen Selbstversuch der jungen New Yorker Avantgarde. Es ging um Selbstorganisation und Selbstbestimmung, um neue Kompositionsformen und Improvisationsbedingungen. Vier Autostunden nördlich der Stadt war er später knapp drei Jahrzehnte lang als Musiklehrer am College tätig. Anders als die meisten seiner frühen Kollegen wollte er seine Musik nicht kommerziell ausschlachten lassen. Wer keine Prinzipien habe, würde über den Tisch gezogen, sagt er.

Man hätte das Label Motown in den sechziger Jahren davon überzeugen sollen, die Platten der schwarzen Avantgarde zu veröffentlichen, sagt er rückblickend. Nur selten hat der Afroamerikaner Dixon eine Vorlesung oder einen Workshop in einem schwarzen College gegeben, schwarzes Publikum besucht seine Konzerte selten. Dass man sich selbst organisieren müsse, war die Parole vor 40 Jahren, erzählt er. Die jungen schwarzen Musiker hätten nicht richtig zugehört.

Dixon machte die Aufnahmen mit dem Exploding Star Orchestra, weil er spürte, dass die jungen Musiker aus Chicago brannten. In jeder Sekunde des Albums hört man, dass sie diese Musik machen müssen, dass es für sie nichts anderes gibt. Ein Künstler müsse immer das tun, was er gut könne, ansonsten würde er spüren, dass sein Leben sinnlos sei, sagt Dixon. Die wichtigsten Dinge in seinem Leben seien passiert, als er nichts hatte. Weder er noch seine Kollegen hätten Rücklagen oder Zukunftsaussichten gehabt. Sie hätten immer nur das getan, was sie tun wollten. Bill Dixon With Exploding Star Orchestra klingt wie die Fortentwicklung dieser Geisteshaltung.

Das unbetitelte Album von Bill Dixon With Exploding Star Orchestra ist bei Thrill Jockey erschienen.

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Komposition 119m

Beim Jazzfestival in Willisau nahm der amerikanische Saxofonist Anthony Braxton ein neues Solo-Album auf. Seine wundersame Musik erzählt von den Widersprüchen des Lebens.

Anthony Braxton Solo Willisau

Der afroamerikanische Altsaxofonist Anthony Braxton pflegt eine innige Beziehung zu Deutschland. Seine Karriere begann vor 30 Jahren beim Jazzfestival in Moers, er bewundert Bach und Beethoven. Karlheinz Stockhausen sei neben Iannis Xenakis, John Coltrane und Sun Ra eines seiner Vorbilder, erzählt er. Er habe ihm vor Augen geführt, dass man bis ins hohe Alter unabhängig musizieren könne.

Anthony Braxton ist 62 Jahre alt. In den vergangenen 30 Jahren hat er eine eigene musikalische Sprache entwickelt, einen ehrlichen künstlerischen Ausdruck. Braxton begreift sich als professionellen Musikstudenten, als jemand, der sein Leben lang lernt. Er setzt sich gerne zwischen die Stühle: Genau genommen, sagt er, sei er nicht einmal Jazzmusiker. Sein Werk sei uneindeutig wie sein Leben zwischen schwarzer und weißer Kultur, zwischen Jazz und Klassik, zwischen linker und rechter Politik. Es interessiere ihn, wie die Menschen ihre Hoffnung zurückgewinnen können.

Sein neues Soloalbum wurde im Jahr 2003 beim schweizer Jazzfestival in Willisau mitgeschnitten. Die Kompositionen auf der CD tragen Titel wie 328 c, 191 j und 344 b. Kleine bunte Grafiken stehen neben den Titeln im CD-Heftchen, es gibt keinen erklärenden Text, keine poetische Einleitung. Erstaunlich zurückhaltend mutet das an, zumal für einen Künstler, der im Gespräch über die gedankliche Einheit von Erfahrung, Idee und Transposition referiert.

Neben sieben Eigenkompositionen interpretiert Braxton auf Solo Willisau den Jazzklassiker All The Things You Are von Jerome Kern. Er fällt mit dem Thema ins Haus, insgesamt klingt seine Version fast konventionell angelegt. In der Komposition 119 m spielt er Töne, die an die Melodien und Gesten des Sprechens erinnern, aber unverständlich bleiben.

Das Leben sei befremdend und wunderschön zugleich, sagt Anthony Braxton im Gespräch über sein neues Werk. Genau davon handelt die wundersame Musik auf diesem bezaubernden Album. Man spürt, dass er ein glücklicher Menschen sein muss, weil seine Arbeit immer gebraucht wird. In normalen Zeiten blühe und entwickle sich die Musik, in harten Zeiten umso stärker. Gerade Musik, die jenseits des großen Marktes existiere, sei wichtig für eine demokratische Gesellschaft, sagt Braxton. Die Reiche zerfielen, doch der Mensch entwickele sich weiter. Jetzt aber habe er keine Zeit mehr zu verschwenden, die Arbeit rufe.

„Solo Willisau“ von Anthony Braxton ist bei Intakt Records erschienen.

Cecil Taylor und Anthony Braxton sollten in Italien erstmals im Duo spielen. Als es fast so weit war, kamen die Veranstalter tüchtig ins Schwitzen. Lesen Sie hier die Reportage von Fredi Bossard »

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