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Fjord Bop

Die Landschaft seiner norwegischen Heimat hat den Trompeter Arve Henriksen geprägt. Die Natur klingt mit in jedem Ton des Albums „Strjon“.

Arve Henriksen Strjon

Als der norwegische Trompeter Arve Henriksen einige der Stücke wiederhört, die er 20 Jahren zuvor in seinem Heimstudio aufnahm, wird er neugierig. Bei einem Stück hatte er zum ersten Mal einen DX-21 Synthesizer von Yamaha benutzt, damals war er 19. Er spielt es seinem Produzenten Helge Sten vor, der ist begeistert. Gemeinsam hören sich die beiden unzählige Kassetten, DATs und Mini-Discs aus Henriksens Anfangszeit an und suchen Material aus, mit dem sie weiterarbeiten können. Als eine Kombinationen aus diesen improvisierten elektronischen Sequenzen aus den vergangenen 20 Jahren und einigen Neuaufnahmen entsteht Henriksens dritte CD: Strjon.

Henriksen begann mit Folklore, später spielte er in einer Marching Band und studierte Jazzimprovisation. Die japanische Bambusflöte lernte er durch eine Kassette kennen, die ihm der norwegische Trompeter Nils Petter Molvær gab. Mit Helge Sten erforschte Henriksen nun seine Einflüsse und Prägungen. Er fand heraus, wie wichtig ihm die Natur ist. Besonders in seinen frühen Aufnahmen spüre er diese Beziehung in jedem Ton, sagt er. Das drückt sich auch in den Titeln aus. Glacier Descent erinnere ihn an das Besteigen eines Gletschers, an eine lange Reise. Die grüne Färbung, die die Seen seiner Heimat im Frühjahr durch die Schneeschmelze bekommen, beschreibt er in Green Water. Black Mountain sei inspiriert von dem Moment, in dem sich die Sonne hinter den Bergen verstecke, wenn sie fast schwarz aussehen.

Käme er aus New York, würde er anders spielen, sagt Henriksen. Die nervösen Rhythmen einer Metropole, der Bebop und der Post Bop, passten nicht zu Norwegen. Dort lebten vier Millionen Menschen zwischen Fjorden und Bergen – es sei klar, dass man den Raum in der Musik höre. Der amerikanische Saxofonist Branford Marsalis sagte deshalb einmal, der norwegische Jazz sei eine neue Art von New-Age-Musik. Henriksen stört die Wucht der Natur nicht. Modernen Komponisten der E-Musik wie György Ligeti, György Kurtág und Olivier Messiaen stehe er kulturell und musikalisch näher als den Amerikanern und ihrer Jazztradition. Über Jazz könnten er und seine norwegischen Musikerfreunde in Büchern lesen, aber es sei nicht ihr kulturelles Erbe.

„Strjon“ von Arve Henriksen ist erschienen bei Rune Grammofon/Cargo

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Tänze im Keller

Medeski, Martin & Wood begeistern junge Hörer mit Hammondorgel und pumpenden Rhythmen. Auf „Out Louder“ spielt der alte John Scofield Gitarre dazu.

Medeski Scofield Martin and Wood Out Louder

Vor knapp zehn Jahren nahmen der Gitarrist John Scofield und das Trio Medeski, Martin & Wood gemeinsam die Platte A Go Go auf. Nun kooperieren sie ein zweites Mal, Out Louder heißt das Ergebnis. Aufgenommen haben sie das Album im Studio des Trios, einem Keller in Brooklyn. Der Bassist Chris Wood berichtet, dass dies die Aufnahmen der Band ganz wesentlich beeinflusst habe, wie eine hungrige Garagenband seien sie sich vorgekommen. Hungrig nach neuen Klängen und Rhythmen, fesselnden Akkorden und Melodien.

Wie immer, wenn Medeski, Martin & Wood ins Studio gehen, spielte die Spontaneität eine wichtige Rolle. Sie kennen sich mit Jazz, Funk, Rock und Reggae aus, in jüngster Zeit wirkten der Schlagzeuger Billy Martin und der Keyboarder John Medeski auch auf verschiedenen New Yorker Avantgarde-Platten mit. Beim Musizieren mit dem Jazzgitarristen John Scofield wollten sie nun Stücke aufnehmen, die zum Tanzen animieren.

Ihr Publikum in Amerika ist sehr jung, es ist die zweite Generation einer Bewegung, die schon vor zehn Jahren große Erfolge feierte: Jam Band. Nicht der Musikkonsum aus der Konserve steht im Mittelpunkt, sondern die – manchmal stundenlange – Improvisation und das Dabeisein. Inspiriert ist die Bewegung von der Hippie-Band Grateful Dead.

Nun also Out Louder: Das Eröffnungsstück Little Walter Rides Again bedient sich eines Stücks des Chicagoer Bluesmundharmonikaspielers Little Walter, Miles Behind ist eine freie Quartettimprovisation, angelehnt an die elektrische Periode von John Scofields einstigem Bandchef Miles Davis. Kitschig klingen die beidem Cover-Versionen des Albums: John Lennons Julia und Peter Toshs Legalize It.

Im Gespräch betont John Medeski gerne den Unterschied zwischen Geschäft und Musik und die Notwendigkeit, beides zu bedienen. Out Louder klingt dennoch wenig kalkuliert. Selbst in den süßlichen und schlichten Passagen scheint noch die Radikalität durch, die diese Band für sich beansprucht. Nach einer langen Zusammenarbeit mit dem Jazzlabel Blue Note erschien das Album in den USA auf dem eigenen Label der Band, Indirecto Records. In Europa wird es nun durch die Universal Music Group veröffentlicht, ergänzt um eine Bonus-CD mit Live-Aufnahmen ihresletztjährigen Auftritts im Bowery Ballroom in New York City.

Einzigartig seien Medeski, Martin & Wood, sagt John Scofield. Und, ja, selten wirkt eine Band so glaubwürdig, die Unabhängigkeit tut ihr gut.

„Out Louder“ von Medeski Scofield Martin & Wood ist als Doppel-CD erschienen bei Emarcy/Universal

Lesen Sie hier das Interview, das Christian Broecking mit Medeski, Scofield, Martin & Wood geführt hat

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Björk und Dracula

Der Pianist Michael Wollny liebt Schauergeschichten. Seine erste Solo-CD „Hexentanz“ klingt düstern, spannend, entrückt, ganz wie die Romane von Sir Arthur Conan Doyle

Michael Wollny - Hexentanz

Wenn man ihn in seiner Dachwohnung im Kreuzberger Chamisso-Kiez besucht, kommt man dem Titel seiner neuen CD Hexentanz schnell auf die Schliche. Auf dem Flügel liegt ein Adorno-Buch, an der Wand hängt ein Plakat für den Film A Clockwork Orange. Die Bücherwand verrät, wie sehr Michael Wollny für Sir Arthur Conan Doyle und Dracula schwärmt. Horrormärchen, Schauerfilme… Diese Leidenschaft begleitet den 28-jährigen Pianisten schon seit der Jugendzeit.

Sein Hexentanz bleibt musikalisch nah am Thema, er spielt mit den gängigen Genre-Klischees, fällt aber nicht auf sie hinein. Verminderte Akkorde schaffen eine düstere Grundstimmung, Pausen markieren Spannungsbögen, elektronische Effekte suggerieren gediegene Entrücktheit, rhythmische Attacken unterlaufen von tief unten das Geplänkel an der Oberfläche.

Die Klavierimprovisationen sind von dem Pianisten Joachim Kühn beeinflusst. Seine Methode des Diminished Augmented System wandte Wollny beim Titelstück an. Kühn geht in seinem Spiel von Klängen aus, nicht von Akkorden.

Im Jahr 2005 hatte Wollny das außergewöhnliche Trio-Album call it [em] mit Eva Kruse und Eric Schaefer herausgebracht. Certain Beauty, seine Duo-CD mit dem Saxofonisten Heinz Sauer, wurde in Frankreich als eine der besten CDs des vergangenen Jahres gefeiert. Nach den beiden intensivsten Jahren seiner Karriere zog er sich für ein paar Wochen in den hohen Norden zurück, um die Musik für Hexentanz zu komponieren.

Auf dem Album hat er auch drei Stücke von Björk neu interpretiert. Er bekennt, ein Anhänger der isländischen Sängerin zu sein, besonders ihre letzte CD Medúlla habe ihn sehr inspiriert. Ihn reizen Stücke wie ihr Anchor Song und Jóga, die Klassiker des Jazz spielt er kaum. Die Musik soll etwas mit seinem Leben zu tun haben und nicht schon von den Kollegen abgegrast worden sein. Wenn Wollny sich mit seinem Trio trifft, bringt er Musik mit, die er gerade hört. In jüngster Zeit waren das vor allem alte Sachen von Pulp und neue von Jarvis Cocker.

„Piano Works VII: Hexentanz“ von Michael Wollny ist als CD erschienen bei ACT

Hören Sie hier „Initiation“

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Im Fluss

Harte Zeiten für die Tonwächter des Jazz: „Streaming“ von Muhal Richard Abrams, George Lewis und Roscoe Mitchell ist spontan und zwanglos

Lewis - Streaming, Please

Nur Abrams lächelt auf den Fotos im Begleitheftchen, die bei Lewis zu Hause aufgenommen wurden. Lewis und Mitchell schauen ernst, nachdenklich, verwundert. Abrams wuchs mit dem Radio auf, in Mitchells Kindheit war Fernsehen das große Thema, und der heute 54-jährige Lewis experimentierte schon früh mit Computern. Zusammen repräsentieren sie die beiden ersten Generationen der schwarzen Chicagoer Musikerselbstorganisation AACM.

Lewis ist heute neben seiner Tätigkeit als Musiker und Komponist Professor an der Columbia University in New York. Mit einem Zuschuss der Uni nahmen die drei diese CD auf, den Rest bezahlten sie selbst. Es ist improvisierte Musik. Da das Material das Fassungsvermögen des Tonträgers um das Dreifache übertraf, wählten sie fast nur Stücke aus, die ohne jede Absprache entstanden waren.

George Lewis lehrt Musiktheorie und -geschichte. Er könnte viel dazu sagen, wie die freie Improvisation akute gesellschaftliche Probleme spiegelt. Doch bezogen auf seine eigene Musik interessiert ihn das nicht. Die Musik, die er mit dem Pianisten Muhal Richard Abrams und dem Saxofonisten Roscoe Mitchell aufgenommen hat, bewege sich außerhalb der mit Hilfe von Relevanzkriterien vermessenen Zeit, sagt er. Der Albumtitel Streaming drückt nach seinem Verständnis vor allem Zeitlosigkeit aus: Man denke nicht daran, vorwärts- oder zurückzugehen, man empfinde sich vielmehr im Fluss.

Freie Improvisatoren leben seit Jahrzehnten in einer Situation des Übergangs. Das Patriarchentum ist durch den Free Jazz aus dem Jazz entwichen. Viele Traditionalisten sind immer noch sauer, dass die Neuerer 1961 die bewährten Pfade verlassen haben. Lewis, selbst nicht mehr der Jüngste, sagt den verbliebenen Tonwächtern des Jazz harte Zeiten voraus. Ökonomisch möge es ihnen gut gehen, das Publikum goutiere das Alte, bloß spirituell entwickle sich die Musik nicht weiter. Wer aber – wie er und seine Freunde – an den Institutionen und großen Plattenfirmen vorbei auf Netzwerke, Zirkulation, Offenheit und Verschiedenheit vertraue, der habe heute den besten aller möglichen Momente.

Neben den Hauptinstrumenten, bei Lewis sind das Posaune und Laptop, kommen auf Streaming auch die AACM-typischen kleinen Dinge wie Bambusflöte, Taxihupe und Glocke zum Einsatz. Besonders die drei hier versammelten AACM-Künstler haben auf ihrem je eigenen Weg Spuren gelegt und eine besondere Atmosphäre geschaffen, in der gemeinsame Unterstützung und Ermutigung die kreative Arbeit begleiten. Das Wichtigste sei, Situationen zu erforschen und darauf zu reagieren oder darin zu agieren, berichtet Lewis von der Arbeit an dieser Platte. Als Improvisator müsse man sich immer wieder entscheiden, wann der Plan verworfen werde und während des Spielens spontan Vorschläge machen, was stattdessen kommen solle.

„Streaming“ vom Muhal Richard Abrams/George Lewis/Roscoe Mitchell ist als CD erschienen bei Pi Recordings

Hören Sie hier „Scrape“

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Keine Zeit zu verschwenden

Das Gehen fällt ihm schon schwer, doch wenn man ihn hört, muss man sich keine Sorgen machen. Mit 76 Jahren hat der Tenorsaxofonist Sonny Rollins eine neue CD veröffentlicht: „Sonny, Please“

Sonny Rollins - Sonny, Please

Eigentlich hasst er es, eigene Aufnahmen anhören zu müssen. Früher hat seine Frau und Managerin Lucille entschieden, welches neue Stück von ihm es auf die nächste CD schafft. Er vertraute ihr da völlig. Doch jetzt, zwei Jahre nach ihrem Tod, kommt er nicht mehr ganz an den Dingen vorbei, ohne die er die letzten 35 Jahre so gut leben konnte. Damals hatten Lucille und Sonny Rollins sich vom großen Jazzgeschäft verabschiedet, sie zogen aufs Land und er unterschrieb bei der kleinen kalifornischen Plattenfirma Fantasy. Dort machte er im Laufe der Jahre über 20 Platten, die ohne viel Marketing-Rummel auf den Markt kamen – Geld verdiente Rollins mit seinen Konzerten.

Als Fantasy unlängst verkauft wurde, entschied sich Rollins, eine eigene Plattenfirma zu gründen. Er wolle damit die Kontrolle über seine Musik erlangen, sagt er – viele seiner Kollegen unternahmen in jüngster Zeit ähnliche Schritte. Sein Label benannte er nach seiner Komposition Doxy, die er unter Leitung von Miles Davis im Jahr 1954 zum ersten Mal aufgenommen hatte.

Die Produktion von Sonny, Please wurde von seinem Neffen und langjährigen Posaunisten Clifton Anderson geleitet. Die Tradition, dass sich bei den Platten von Rollins alles, ja, wirklich alles nur um seine Soli dreht, bricht auch diese Aufnahme nicht. Man hat das starke Gefühl, dass sein einzigartiger Tenor-Klang geradezu mit der Blässe der Band korreliert.

Sonny, Please ist für Rollins ein Album voller Erinnerungen geworden. Auch das ist nicht untypisch für den Musiker, der den modernen Jazz mit erfunden hat. Anders als bei früheren Platten fehlt jedoch jeder Hinweis auf gesellschaftliche Belange. Er bezeichnet sich als mittlerweile reichlich desillusioniert, soweit es seinen Glauben an die Macht der Musik betrifft. Die wunderschöne Ballade Someday I´ll Find You hatte Rollins auch schon im Jahr 1958 in seiner gesellschaftskritisch gemeinten Freedom Suite verwendet, und sie besteht auffallend mühelos den Test der Zeit und veränderter Kontexte. Seine Komposition Park Palace Parade erinnert an die Calypso-Künstler in Spanish Harlem und an eine Zeit, als man sich für solche Musik noch zum Tanz versammelte. Rollins hat keine Zeit zu verschenken, und entsprechend dringlich mag diese Musik nun wirken. Als wolle er unbedingt sagen, dass das noch nicht alles gewesen sein kann.

„Sonny, Please“ vom Sonny Rollins ist als CD erschienen bei Doxy Records, in Deutschland wird sie von Universal vertrieben

Hören Sie hier „Sonny, Please“

Hier geht’s zum Artikel von Christian Broecking über seinen Besuch bei Sonny Rollins in New York

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Die Winterreise

Was Schubert konnte, kann Schlippenbach schon lange: Drei alte Freejazzer fahren durch die deutsche Provinz. Und erleben so einiges

Schlippenbach-Trio Winterreise

Bei Dunkelheit und schlechtem Wetter in einer unbekannten Stadt anzukommen, erst mal „Hotel Kacke“ in der Kackgasse und dann den Club zu finden, sei ein melancholisches Geschäft, berichtet Alexander von Schlippenbach von der alljährlichen Winterreise seines Trios. Immerhin seien die Clubs heute etwas komfortabler als vor 35 Jahren, als alles begann. In den Anmerkungen zur neuen CD mit frei improvisierter Musik notiert Schlippenbach auch Zeichen der Veränderung – die Clubs seien heute etablierter, da sie oft mit städtischen Kulturbehörden zusammenarbeiten, könnten sie auch etwas bessere Gagen zahlen.

Mit Schlippenbach am Steuer, Parker als Straßenkartendeuter und Lovens auf dem Rücksitz geht es, jedes Jahr im Dezember, auf eine kleine Tour durch ausgewählte Clubs der Republik. Unlängst wurden Parkers Karten durch das Navigationssystem „Lisa“ ersetzt. Schnell hat man es in „Moni“ umgetauft, das Hotel in der Kackgasse findet man mit ihrer Stimme tatsächlich viel schneller. Parker beschreibt die Tour als eine Mischung aus Urlaub und Verpflichtung. Lovens ist für die Musik im Auto zuständig – letztens haben sie auf der Fahrt fast ausschließlich Soli des Saxofonisten Wayne Shorter gehört, die Lovens auf Kassetten kopiert hatte. Die Musikstücke setzten immer erst da ein, wo das Solo beginnt und brachen ebenso abrupt wieder ab.

Das Schlippenbach-Trio hat europäische Freejazzgeschichte geschrieben, seine Musik swingt. Es gilt heute als eines der langlebigsten Kollektive der Improvisierten Musik. Die Vielfalt der gemeinsamen Erfahrungen und Ideen hört man während dieser knapp 70 Minuten Musik auf Winterreise sehr deutlich. Die kollektive Improvisationshaltung Schlippenbachs widerspricht jenen musikalischen Gesetzgebern, die auf das einmalige Ereignis setzen. Das macht die Musik des Trios so wundervoll: Intensität und Dichte, Klangberge und leise Horizonte aus einer gut gefüllten Schatztruhe gemeinsamer Spielerfahrung geschöpft.

„Winterreise“ vom Schlippenbach-Trio ist erschienen bei Psi Records

Hören Sie hier „Winterreise“

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Im weiten Raum zwischen C und Cis

Kaum ein Jazzmusiker hat die Aufbruchstimmung der sechziger Jahre besser eingefangen als der Saxofonist Pharoah Sanders. Vier seiner Stücke versammelt die neue CD „The Impulse Story“

Cover Sanders

Weiße Jacke, weißer Bart und blaues Käppi, das sind die Markenzeichen des Saxofonisten Pharoah Sanders. Die Augen geschlossen, schreitet er auf der Bühne umher, um die Hypnose einzuleiten. Antikommerziell wirkt seine Kunst und gesellschaftlich relevant.

Er hat in seiner Musik den Geist der Sechziger kultiviert. Zittrig, laut und warm ist sie. Seine Zirkularatmung trägt den Ton, Echo-Effekte bewirken, dass sein Instrument noch zu hören ist, wenn er es bereits abgesetzt hat.

In der High School hieß er Farrell Sanders. Er trug schwarze Kleidung, Sonnenbrille und Schal und malte sich einen kleinen Oberlippenbart, um sich in die Jam Sessions der lokalen Jazz-Clubs zu mogeln. Anfang der sechziger Jahre zog er nach New York, wo er zunächst in der Arche von Sun Ra lebte, einer hierarchisch geführten Musikerkommune. Nach zwei Jahren verließ er sie, fortan nannte er sich Pharoah. Er schlug sich durchs Leben, indem auf den Straßen der Stadt für Kleingeld spielte und sich das Blutspenden bezahlen ließ. Als er Mitte der sechziger Jahre von John Coltrane engagiert wurde, lebte er den Free Jazz und hatte nur ein Thema: Saxofonmundstücke.

Pharoah Sanders lebt nüchtern. Er ernährt sich von Obst, raucht nicht, trinkt nicht, nimmt keine Drogen – auch wenn man beim Hören seiner Musik manchmal anderes vermutet. Seine Heimat ist der Raum, der zwischen einem C und Cis liegen kann.

Seine bekannteste Nummer The Creator Has A Masterplan nahm er Ende der sechziger Jahre mit Leon Thomas auf, es ist ein impulsives Stück des New Thing. Thomas, der im Jahr 1999 starb, hatte Botschaften von einem besseren Hier und Jetzt verkündet. Er benutzte seine Stimme wie ein Instrument, seine Jodelklänge bezeichnete er als Soularfone. „Spirits, Peace and Happiness!“, lautete die Parole. Kaum eine Jazzaufnahme hat die Aufbruchstimmung jener Tage so genau eingefangen wie die mehr als 30-minütige Masterplan-Version aus dem Jahr 1969, die sich auf der Sanders gewidmeten CD der Reihe The Impulse Story befindet. Neben Astral Traveling und Spiritual Blessing ist auch Upper Egypt And Lower Egypt von seinem Debüt zu hören – damals hatte er sich gerade als Mitglied des John Coltrane Quintetts einen Namen gemacht.

Pharoah sei ein einziger großer Song, schrieb der schwarze Dichter und Aktivist Larry Neal damals in der Zeitschrift Cricket, er brauche einen Tempel für seine musikalische Predigt.

„The Impulse Story“ von Pharoah Sanders ist als CD erschienen bei Impulse

Hören Sie hier „Astral Travelling“

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Heilen mit der Dosen-Ngoni

Der Bassist William Parker ragt heraus aus der New Yorker Szene schwarzer improvisierender Musiker. Einer seiner ungewöhnlichen Ausflüge hat „Long Hidden – The Olmec Series“ gezeitigt: Merengue trifft auf radikalen Free Jazz

Cover William Parker

„The Revolution Continues“ stand in diesem Jahr auf dem Festival-T-Shirt. Zehn Meter lang waren die zusammengestellten Tische, auf denen CDs angeboten wurden, die sonst nur schwer erhältlich sind – meist veröffentlicht von kleinen Plattenfirmen mit Büros in Wohnungen und einer Internet-Adresse. Auf der Empore gab es „William Parker’s Fried Chicken“, schräg gegenüber lag seine neue CD Long Hidden: The Olmec Series zum Verkauf. Zum elften Mal leitete der Bassist das Vision Festival in New York, andernfalls hätte er seinen Namen wohl kaum einer Hähnchenkeule geliehen.

Wie schon immer in der Geschichte des Festivals geht es auch dieses Mal um Mieten für Spielorte und Gagen für improvisierende Musiker – Kostbarkeiten in einer konsumorientierten Welt, die leider niemand zahlen will. Parker fordert das politische Engagement seiner künstlerisch tätigen Kollegen ein, „Parker predigt den Gospel“, heißt es.

Er hat sein neues Album den Olmec, den Ureinwohnern Mittelamerikas, und ihrer Verbindung mit Westafrika gewidmet. Im Zentrum stehen Kompositionen für ein Ensemble aus drei erfahrenen Free Jazz-Musikern und vier sehr jungen Merengue-Spielern. In dem Stück El Puente Sec spielt Parker Perkussion und eine sechssaitige Dosen-Ngoni, die traditionelle Jägergitarre aus Mali. Sein Bass-Solo in Compassion Seizes Bed-Stuy korrespondiert mit dem Parker-Klassiker In Order To Survive und seiner Lebenserfahrung während der Bush-Ära – das ganze Stück hindurch sei ein Aufschrei spürbar, schreibt er: „Lord have mercy, fill these young black men with your spirit, before they fill another prison with young black men.“

Zu jedem Stück hatte Parker eine Geschichte, die er den Musikern bei den Proben erzählte. Von den Olmecs erfuhr er zum ersten Mal während seiner Afrika-Studien Ende der 60er, in seiner Komposition Pok-a-Tok wolle er zum Ausdruck bringen, dass sie große kreative Denker waren, „den Jazzerfindern Thelonious Monk, Bud Powell und Charlie Parker durchaus vergleichbar“.

Die Musik auf der CD bewahrt trotz unterschiedlicher und teils ungewöhnlicher Instrumentierung immer ihren ganz eigenen experimentellen Charakter. Wie ihm das gelingt, ist Parkers Geheimnis. Das gibt er auch nicht preis, wenn er erklärt, in der gestrichenen Bassimprovisation Cathedral of Light käme seine gesamte Musiktheorie auf den Punkt: „Sound ist Licht, und Licht ist Sound.“ Long Hidden: The Olmec Series, das sind intime Töne eines Revolutionärs, der mit jedem Song Heilung verspricht.

„Long Hidden – The Olmec Series“ von William Parker ist als CD erschienen bei AUM

Hören Sie hier „El Puento Seco“

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Ein Stück Musik erfinden

Der Gitarrist Ralph Towner ist ein stiller Innovator. Seine Kompositionen prägten den Sound der Band Oregon, nun gibt es ein neues Soloalbum von ihm: „Time Line“

Cover Towner

Der Gitarrist Ralph Towner ist einer der wenigen eigenständigen Ideenentwickler des zeitgenössischen Jazz. Sein Spiel ist geprägt von stilistischer Offenheit und einem erstaunlichen improvisatorischen Erfindungsreichtum. Singbare Melodien, spontane Kompositionen und kollektive Erfahrung bestimmen auch den Klang der von Towner mitgegründeten Band Oregon, einer Band von „vier Typen, die ein Stück Musik erfinden”. Der amerikanische Komponist Aaron Copeland soll einst nach einem Oregon-Konzert gesagt haben, dass diese Band das improvisiere, was Luciano Berio zu komponieren versuche.

Sein klassischer Hintergrund als Komponist und Musiker klingt nicht nur in den kollektiven Improvisationen bei Oregon durch, sondern prägt auch Towners Solo-Aufnahmen. Auf seinem neuen Album Time Line benutzt er Material aus dem Jazz und der modernen klassischen Musik. Ein Unterschied zwischen notierter und spontan improvisierter Musik ist kaum auszumachen.

Towner hat zahlreiche Aufnahmen für die Plattenfirma ECM gemacht, seine drei bisherigen Gitarrensoloalben Solo Concert, Ana und Anthem sind allesamt herausragend. Ähnlich wie Keith Jarrett und Jan Garbarek nimmt er schon seit Jahrzehnten für das Münchner Label auf. Und er verdankt ihm einiges, ECM-Chef Manfred Eicher produzierte seine Band und holte sie aus den New Yorker Folkclubs auf die kammermusikalischen Off-Bühnen in Europa.

Time Line enthält Stücke für sechs- und zwölfseitige Gitarre, die er in den letzten Jahren auf seinen Solo-Konzerten häufig gespielt hat. Neben Eigenkompositionen befinden sich auch die beiden Jazz-Standards Come Rain Or Shine und My Man’s Gone Now auf dem Album, reinterpretiert im Stile des Pianisten Bill Evans. Für den 66-jährigen Towner geht es in dieser Musik um existenzielle Erfahrungen, die nicht mit Worten kommuniziert werden: „Der Sound reicht tiefer als eine gut erzählte Geschichte, er versetzt mich an einen magischen Ort.“

„Time Line“ von Ralph Towner ist als CD erschienen bei ECM.

Hören Sie hier „If“

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Nach dem Sturm

Der Hurrikan Katrina zerstört sein Haus in New Orleans. Drei Wochen später nimmt der Saxofonist Kidd Jordan in einem New Yorker Studio eine neue Platte auf: „Palm Of Soul“

Cover Kidd Jordan

Als der Saxofonist Kidd Jordan in New York ankam, saß ihm der Schock noch in den Knochen. Seine Familie und er hatten gerade den Hurrikan Katrina überlebt, aber ihr Haus verloren. Er wohnte jetzt in einem Apartment in Baton Rouge, der Hauptstadt von Louisiana. Er war wütend und traurig. Wenn die Versicherungsfragen einmal geklärt sein werden, wird er sein Haus wieder aufbauen – vielleicht.

Der Tenorsaxofonist war auf Einladung des Bassisten William Parker und des Schlagzeugers Hamid Drake nach New York gekommen. Als er das Studio in Brooklyn betrat, stand ihm der Sinn nach einer explosiven, zornigen Aufnahme. Die aufgebauten Instrumente hatte er nicht erwartet: Vor allem waren da Gongs, Glocken, eine Talking Drum und eine Tabla – als sollte etwas Meditatives eingespielt werden. „Ich dachte nicht mehr an Katrina, sondern an das, was William und Hamid hinter mir für eigenartige Klänge machten“, erzählt Jordan über die Session.

William Parker und Hamid Drake sind gefragte Musiker, sie sind ständig auf Tour, meist in Europa. Kidd Jordan hingegen, über siebzig, ist ein bisschen in Vergessenheit geraten. Anders als mancher Kollege war er einst nicht nach Los Angeles gezogen, um dort mit Filmmusik sein Geld zu verdienen. Er blieb in seiner Heimatstadt, sein Name wurde zu einem musikalischen Markenzeichen von New Orleans. Aber er wollte nicht in den Kneipen Bebop oder Traditionals für Touristen spielen. Er wurde Free-Jazz-Saxofonist und sicherte sich sein Auskommen als Musiklehrer. Auch die Marsalis-Brüder gingen einst durch seine Schule.

Auf Palm of Soul sind Jordan, Parker und Drake zum ersten Mal in einem gemeinsamen Trio zu hören. Außer dem Termin und dem Ort war nichts abgesprochen, alle Stücke wurden improvisiert. Die Musik auf der CD klingt überraschend. Jordans Zorn ist einer improvisatorischen Tiefe und Schönheit gewichen. Vielleicht hört sich so die subversive Harmoniesehnsucht in einer Ära des kulturellen Niedergangs an. Oder ist das nur die kurze Ruhe nach dem Sturm?

„Palm Of Soul“ von Kidd Jordan ist als CD erschienen bei AUM.

Hören Sie hier „Resolution“

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