Der klassische Bassbariton Thomas Quasthoff betritt Neuland: Er hat mit dem Trompeter Till Brönner ein sehr vorsichtiges Jazz-Album aufgenommen
Ruhig hebt sich die tiefe Stimme, schlägt einen weiten Bogen und schwebt für einen Moment dort, wo die Welt in ihrer Ganzheit sichtbar wird. Der Horizont ist aufgehoben, Grenzen überwunden. Ein flüchtiger Moment der Utopie. Dann sind die Begrenzungen wieder da, der enge Raum der Verletzlichkeit.
Der Bassbariton Thomas Quasthoff ist Contergan-geschädigt und mit dieser Behinderung durch sehr enge Räume gegangen, durch Räume der Zurückweisung, des Spottes und der Scham. Für sein erstes Jazz-Album hat er eine sehr persönliche Stückauswahl getroffen.
Neben They All Laughed von George und Ira Gershwin, Smile von Charlie Chaplin und In My Solitude von Duke Ellington singt er Ac-Cent-Tschu-Ate The Positive oder Stevie Wonders You And I. Seine Themen sind Einsamkeit, Freundschaft, Liebe und das Prinzip Hoffnung. Quasthoff hat Ernst Blochs Bücher gelesen und gelebt. Auch davon handelt die CD.
Gefühlswelten werden durchschritten, und doch lässt sich niemand wirklich fallen. Es ist für beide Seiten – den Sänger und auch seine Musiker – ein langsames Ertasten fremden Terrains. Der große gegenseitige Respekt, aber auch die Vorbehalte sind da. Wie wird einer wie Thomas Quasthoff dem Jazz begegnen? Zu häufig sind derartige Projekte gescheitert, an der Überheblichkeit, aber auch an der mangelnden Kompetenz vieler Klassiker gegenüber dem Jazz. Die freie, nicht notierte Musik hat kein Sicherheitsnetz.
Schon oft hat Thomas Quasthoff Jazz gesungen, zu Schulzeiten mit seinem Bruder und eigenen Bands, später auch auf großen Konzertbühnen. An eine Jazz-Studioaufnahme hat er sich bisher noch nicht gewagt. Das ist Neuland für ihn und seine Plattenfirma, die Deutsche Grammophon.
Der Jazz-Trompeter und Produzent Till Brönner ermutigte ihn. Brönner engagierte den Pianisten Alan Broadbent für die Aufnahme und die Arrangements. Broadbent, Teil von Charlie Hadens Quartet West und musikalischer Leiter Diana Kralls, ist bereits mit zwei Grammys für seine Arrangements ausgezeichnet worden. Früher spielte er mit Chet Baker. Er liebt den sanften West-Coast-Stil. Mit seinen sparsamen und flächigen Bearbeitungen der Standards aus dem Great American Songbook hat er Quasthoffs Album geprägt. Es ist die Ästhetik der Melancholie, der scharrenden Lack-Scheiben eines Grammophons, ein Stück eingefrorene Zeit.
Auch Brönner spielt professionell und weiß seine Klangfarben einzusetzen. Schön und eingängig sind seine rauchigen Akzente bei Smile. Doch sein Solo erstickt beinahe unter dem Streicherteppich des Deutschen Symphonie-Orchesters. Insgesamt folgt die Musik dem Gesang Quasthoffs, umspielt und akzentuiert ihn, ohne ihm eine Reibungsfläche zu bieten. Das ist schade, denn das hätte seine reiche und wandlungsfähige Stimme weiter herausfordern können.
Der Sänger wird weich gebettet von Till Brönner und Alan Broadbent. Auf der CD bleibt kein Raum zum Improvisieren, alles ist vorgegeben. Das hätte nicht sein müssen. Quasthoff ist, über Genregräben hinweg, vor allem ein Virtuose. Es wäre spannend zu hören gewesen, wie er mit den sich öffnenden Räumen umgeht, wie er die Grenzen überschreitet. So bleiben es nur Momente, die erahnen lassen, was noch kommen könnte.
„Watch What Happens“ von Thomas Quasthoff ist als CD erschienen bei Deutsche Grammophon
Hören Sie hier „Watch What Happens“
Lesen Sie hier, was Thomas Quasthoff im Interview zu seiner neuen Platte sagt.
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