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Liebesbriefe nach Kanada

Der Jazzpianist Herbie Hancock bewundert die Popsängerin Joni Mitchell. Er hat ihr sein neues Album gewidmet und Norah Jones, Tina Turner und Leonard Cohen ans Mikrofon gebeten.

Hancock River

Wenn man von Nordamerika spreche, dann müsse man von den Unterschieden zwischen US-Amerikanern und Kanadiern sprechen, sagt Herbie Hancock. Die US-Amerikaner seien selten wirklich nett, die Kanadier hingegen bezeichnet er als liebenswert und friedfertig. Joni Mitchell ist Kanadierin, ihr hat er seine neue CD gewidmet. Acht der zehn Stücke auf River: The Joni Letters sind von ihr. Die beiden kennen sich schon lange, im Jahr 1979 waren sie für die Platte Mingus zum ersten Mal gemeinsam im Studio.

In ihren Gedichten und Liedtexten berichtet Joni Mitchell von dem, was sie durchlebt hat. Wie sie als 21-Jährige ihre Tochter zur Adoption freigab und später wiederfand. Die Geschichte ihrer kürzlich verstorbenen Mutter. Wie ihr eine Wahrsagerin während des 2. Weltkriegs prophezeit hatte, dass sie binnen eines Monats heiraten würde. Tatsächlich traf sie einen Soldaten auf Heimaturlaub, ein Jahr später wurde ihre Tochter geboren. Herbie Hancock sagt, Joni Mitchell ließe das Publikum an ihren Erfahrungen teilhaben, sie versuche, eine Gemeinsamkeit herzustellen zwischen Künstlern und Menschen, die ein normales Leben führten. Es gehe ihr um die Gebote der Menschlichkeit.

Joni Mitchell ist eine enttäuschte Frau. Hancock versteht sie. Die Menschheit sei in großer Gefahr, man müsse neue Wege des respektvollen Zusammenlebens finden. Ihm ist sie eine Heldin. Sie sei niemand, der das Scheinwerferlicht suche, sondern eine starke Frau, die für ihre Überzeugungen kämpfe.

Auf seiner neuen CD interpretiert er Wayne Shorters Komposition Nefertiti, einen Klassiker aus Hancocks gemeinsamer Zeit mit dem Saxofonisten im Miles-Davis-Quintett der sechziger Jahre. Es sei eines der Lieblingsstücke Joni Mitchells, berichtet er. Jetzt spielt er es noch einmal mit seinem Freund Shorter. Wo im Original vor 40 Jahren ein Schlagzeugsolo pulsierte, ruhen nun Melodie und Klangaura. Joni Mitchell hatte Shorter häufiger zu Plattenaufnahmen eingeladen.

Herbie Hancock ist mittlerweile 67 Jahre alt. River: The Joni Letters ist seine erste Platte, auf der die Texte eine Rolle spielen. Die Arbeit an dem Album sei eine Herausforderung gewesen, erzählt er. Es sei ihm darum gegangen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Musik die Hörer dazu motiviere, auf die Worte zu achten. Deshalb spielte er die Lieder langsamer ein als Joni Mitchell. Sie wirbelte damals ihre tiefgründigen Texte um sich, hier wäre das auf Kosten der Inhalte gegangen. Dadurch, dass er die CD wie eine imaginäre Filmmusik zu ihrem Werk anlegte, schuf er Raum. Weniger ist mehr, das war sein Motto.

Hancock singt die Stücke nicht selbst, er überlässt prominenten Gästen den Platz am Mikrofon: Norah Jones, Tina Turner, Corinne Bailey Rae, Leonard Cohen. Zu den herausragenden Momenten der CD gehören Hancocks Solo in The Jungle Line – Leonard Cohen spricht den Text ein – und Norah Jones’ Gesang bei Court and Spark. Und natürlich das Stück The Tea Leaf Prophecy, das Joni Mitchell selbst singt.

„River: The Joni Letters“ vom Herbie Hancock ist erschienen bei Verve/Universal.

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Die große Wut

Christian Scott erzählt auf seiner Trompete von der Zerstörung seiner Heimatstadt New Orleans, vom Irak-Krieg und sozialer Ungerechtigkeit.

Scott Anthem

Der junge schwarze Trompeter Christian Scott wird hoch gehandelt in diesen Tagen. Beim North Sea Jazz Festival in Rotterdam interviewte er Wynton Marsalis, auf dem neuen Album von Prince spielt er ein Solo, und im nächsten Film von Steven Soderbergh ist er als Schauspieler zu sehen. Gerade ist seine zweite CD erschienen, Anthem.

Christian Scott kommt aus New Orleans, auf Anthem geht es um das Leben in der Stadt, die vom Wirbelsturm Katrina vor zwei Jahren teilweise zerstört wurde. Titel wie Litany Against Fear, Antediluvian Adaptian (Vor der großen Flut) und The Uprising sprechen eine klare Sprache. Im Schicksal von New Orleans spiegelten sich die großen Konflikte der Welt. Er sei kein politischer Musiker, sagt Scott. Die Regierung jedoch, die New Orleans tagelang im Stich ließ, sähe er gerne auf der Anklagebank – wegen Mordes.

Die Menschen dort seien immer noch aufgebracht. Es sei eine Schande, dass internationale Hilfsorganisationen sich einschalten mussten, während die eigene Regierung im Ausland teure Kriege um Öl führte. Die meisten schwarzen Menschen, die betroffen waren, verdienten zwischen 10.000 und 30.000 Dollar im Jahr, sie könnten sich oft kein eigenes Auto leisten und hätten keine Rücklagen, sagt Christian Scott. Man hätte sie vor der Sturmflut evakuieren müssen.

Er spricht von seinem musikalischen Konzept. Davon, dass die Gefühle eines Musikers nicht von den Inhalten zu trennen seien. Die Situation in New Orleans, der Irak-Krieg und die soziale Ungerechtigkeit in den USA machten ihn wütend, da könne er keine Party-Musik spielen. Es gehe ihm um Ehrlichkeit - sich selbst und dem Zuhörer gegenüber. Tief empfundener Protest und Unmut könnten sich aber unterschiedlich anhören, sagt Christian Scott. In seiner Musik lauert zwischen dem Ruhigen und Tradierten immer auch das Unberechenbare.

Vor sechs Jahren verließ er New Orleans, um Musik zu studieren. Heute lebt er in New York. Erst dort habe er bemerkt, wie beschränkt das Leben in seiner Heimatstadt war. Er verstehe, dass viele Menschen gar nicht mehr zurückkehren wollten, weil sie heute in anderen Städten besser und sicherer leben könnten. New Orleans sei gefährlicher als Los Angeles, sagt Christian Scott, Katrina habe das sichtbar gemacht.

Er wuchs auf mit HipHop, Prince und Michael Jackson, als Kind hatte er mit asiatischen und weißen Amerikanern zu tun. Die Segregationserfahrungen vieler afroamerikanischer Musiker machte er nicht. Sie waren gezwungen, mit anderen Schwarzen zu musizieren und entsprechende Verhaltens- und Sprachformen zu entwickeln. Christian Scott hingegen verspürt eine musikalische Freiheit. Sie möchte er auf Anthem zum Ausdruck bringen.

„Anthem“ vom Christian Scott ist erschienen bei Concord.

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Implosives Nachspiel

Aki Takase und Silke Eberhard interpretieren Ornette Colemans alte Stücke neu. Ihre Improvisationen sind kraftvoll und kurzweilig.

Takase Eberhard Coleman Anthology

Es ist dem Saxofonisten Ornette Coleman kaum möglich, über seine Musik zu sprechen, ohne das Wort Liebe zu gebrauchen. Musik sei etwas fürs Gefühl, die Unsterblichkeit im Hier und Jetzt, sagte Coleman, als 1959 seine Platte The Shape Of Jazz To Come erschien. Die Aufnahme prägte ein neues Formverständnis und dokumentierte seine Suche nach der Erweiterung des emotionalen Ausdrucks im Jazzvokabular. Sie legte einen Grundstein für den Free Jazz. Ornette Colemans Kompositionen Lonely Woman und Peace sind Plädoyers für die lyrische Freiheit in der Musik, mit Congeniality, das er einem Wanderprediger gewidmet hatte, wollte er das besondere Verhältnis des Musikers zu seinem Publikum ausdrücken. Die CD-Box Beauty Is A Rare Thing mit Aufnahmen aus seinen Anfangsjahren ist eines der schönsten Liebes-Geschenke aus Jazzmusik, das man machen kann.

Die Musikerinnen Aki Takase und Silke Eberhard haben nun die eindringlichsten seiner Stücke aus den Jahren 1959 bis 1968 neu interpretiert für ihr Doppelalbum Ornette Coleman Anthology. Vom ersten Ton an ist hörbar, wie fasziniert die beiden in Berlin lebenden Musikerinnen von Ornette Coleman sind. Lieder, die Anfang der sechziger Jahre als revolutionär und unnahbar galten, klingen jetzt wie kammermusikalische Kleinoden. Man kann sich kaum mehr vorstellen, wie die Kompositionen die Menschen damals verstörten und verwirrten. In den Neuinterpretationen tauchen plötzlich bekannte Melodien auf und verschwinden wieder. Sie kämen einem wie wunderbare Traumbilder vor, schreibt die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada.

Die Musik der Pianistin Aki Takase steckt voller Individualität, Kraft und Ausdruck. In ihren Projekten gelingt ihr die überzeugende Verbindung der Klassiker des Genres mit zeitgenössischer Improvisation. Auch das Spiel der Klarinettistin und Saxofonistin Silke Eberhard ist von der Improvisation bestimmt. Das Handeln der Partnerin wird rasch analysiert und eine musikalische Antwort gefunden. Das kurzweilig Implodierende in dieser Musik nimmt bei den beiden atemberaubende Züge an – sie machten es sich auch nicht gerade einfach, sagt Eberhard.

Mit der Ornette Coleman Anthology geht es Aki Takase und Silke Eberhard nicht um Kunststückchen und auch nicht um Besserwisserei. Der Klang müsse von innen wachsen, sagt Takase – alles dreht sich um die Liebe.

„Ornette Coleman Anthology“ von Aki Takase und Silke Eberhard ist erschienen bei Intakt Records.

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Wo ist der Takt?

Schwarzen Jazz und weißen Jazz kennt man. Aber indischen Jazz? Mit Folklore und Bollywood hat das jedenfalls wenig zu tun, was Vijay Iyer und Rudresh Mahanthappa spielen.

Vijay Iyer & Rudresh Mahanthappa Raw Materials

Jazz tauge nur etwas, wenn man den Puls des Widerstands spüre, sagt der Pianist Vijay Iyer. Die Musik ist ihm eine Form des Aushandelns. Er versteht sich als Teil einer Gemeinschaft der Improvisatoren, mutiger Individuen, die die Jazzgeschichte prägten. Musik, die unter behüteten Bedingungen entsteht, interessiert ihn nicht.

Das Down Beat Magazine kürte Vijay Iyer kürzlich zum Aufsteiger des Jahres 2006 – wie bereits im Vorjahr. So neu ist er gar nicht im Jazz, vor zwölf Jahren erschien sein Debüt Memorophilia, seit über zehn Jahren spielt er mit dem Saxofonisten Rudresh Mahanthappa zusammen. Raw Materials ist ihr neues gemeinsames Album.

Beide Musiker gehören zur ersten Generation von Immigranten mit indischen Wurzeln, die in den USA als Künstler arbeiten. In New York und San Francisco gibt es heute eine asiatisch-amerikanische DJ-Kultur und visuelle Künstler. Als Jazzmusiker passten sie aber noch nicht in die Schemata der Plattenfirmen, erzählt Rudresh Mahanthappa. Die erwarteten, dass man in jedem Stück indische Einflüsse ausmachen kann. Mittlerweile kämen auch junge indische Amerikaner zu ihren Konzerten.

Als Kind habe er nicht gewusst, wohin er gehöre. Seine Eltern waren in den fünfziger Jahren nach Colorado gekommen, ihre Heimat lernte er erst später auf einer Studienreise kennen. Sie seien gläubige Hindus, zu Hause habe es täglich indisches Essen gegeben, unterhalten habe man sich auf Englisch. Lange Zeit habe er sich gewünscht, weiß zu sein, berichtet Rudresh Mahanthappa.

Manche seiner Rhythmen kommen aus der südindischen Musik. In seiner Komposition Forgotton System gibt es ein Muster aus 30 Schlägen, das man in beliebig viele Takte aufteilen kann. Sind es zwei Takte mit 15, drei Takte mit zehn oder sechs Takte mit fünf Schlägen? Er bricht Strukturen auf, seine Rhythmen sind verzögert und polyrhythmisch.

Kürzlich erwarb das unabhängige New Yorker Label Pi Recordings die Rechte für den europäischen Vertrieb von Raw Materials, so ist die CD mit einem Jahr Verspätung nun auch hier erhältlich. Im Herbst werden die beiden Musiker beim Deutschen Jazzfestival Frankfurt auftreten.

„Raw Materials“ von Vijay Iyer und Rudresh Mahanthappa ist erschienen bei Pi Recordings/Sunny Moon.

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Jünger des goldenen Rüssels

Im vergangenen Jahr löste der Saxofonist David S. Ware sein Quartett auf, es bekam kaum Angebote. „Renunciation“ ist ein Mitschnitt des letzten Konzerts.

David Ware Renunciation

Der Elefantengott Ganesha steht im Hinduismus für den Schutz des Hauses. Seit 30 Jahren beschäftigt sich der amerikanische Saxofonist David S. Ware mit der Mythologie der Gottheit. Sie herrscht über Poesie, Musik und Wissenschaft und ist das Symbol für Weisheit und Intelligenz, den Schutz bei Veränderung und Glück für den Weg. Auf der Hülle von David S. Wares im Jahr 2005 erschienener 3-CD-Box Live In The World war der Rüssel des Ganesha abgebildet, er sah wie ein goldenes Saxofon aus. Auch in den Anmerkungen zu seiner neuen CD Renunciation preist er den Elefantengott. Er könnte den Schutz gut gebrauchen, derzeit läuft es für den Musiker nicht rund.

Beim New Yorker Vision Festival im Sommer 2006 kündigte er an, der Auftritt sei der letzte seiner Band. Mit dem David S. Ware Quartet – neben ihm der Pianist Matthew Shipp, der Bassist William Parker und wechselnde Schlagzeuger – spielte er 18 Jahre lang zusammen, mit ihm war er bekannt geworden. Nun sollte Schluss sein. Aufgeregt und enttäuscht reagierten das Publikum und die Kritiker. Die neue CD Renunciation ist ein Mitschnitt dieses letzten Konzerts des Quartetts.

Zwei Menschen verdankt David S. Ware, dass er überhaupt bekannt wurde: seiner französischen Managerin Anne Dumas und dem Saxofonisten Branford Marsalis. Marsalis entdeckte ihn und vermittelte ihm im Jahr 1997 einen Vertrag mit dem großen Label Columbia. Zwei CDs und knapp drei Jahre später war Schluss, nicht nur für David S. Ware, auch Marsalis wurde als Talentsucher bei Columbia gefeuert. Anne Dumas verhalf dem Quartett in dieser Situation zu Auftritten in Europa, in seinem Heimatland gab es keine Angebote mehr.

Schon während seiner Zeit bei Columbia trat David S. Ware selten auf. Wenn er erst mal einen großen Plattenvertrag habe, würde sich alles ändern, hätten ihm die Manager damals gesagt. Es ginge nicht um die Musik, lamentiert er, die Manager reagierten nur, wenn sie Dollars ahnten. Müßig zu entscheiden, ob er frustriert oder realistisch ist. In die gängigen Jazzclubs passt David S. Ware nicht. Es stört ihn, wenn die Leute während seiner Konzerte trinken und essen und wenn sie sich unterhalten. Man spürt diese Haltung in seiner Musik, man liest sie in den Begleittexten seiner Alben.

David S. Ware löste sein Quartett auf, weil es in den Vereinigten Staaten keine Angebote mehr bekam. Er wolle die langjährige Arbeit nicht schmälern, schreibt er zu Renunciation. Das letzte gemeinsame Konzert sei vor allem als Kritik an den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten zu verstehen. Ware fordert bessere Arbeitsbedingungen für Kreative, er weiß, dass nur etwas passiert, wenn Menschen, die die Musik lieben, sich für sie einsetzen.

Seine Musik ist wie ein Gebet – beschwörend, kraftvoll, tief, hymnisch. Es geht ihm um Bewusstsein und Wertesysteme, um die Fragen, wie man sich und die Welt wahrnimmt und wofür man lebt. Er brauche nicht viel zum Glück, sagt er. Wundervolle Musik machen, die Tiefe hat und doch schwebt, darum ginge es ihm. Er ist sich sicher, dass Ganesha ihn dabei unterstützen wird.

„Renunciation“ von David S. Ware ist erschienen bei AUM.

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Für jene, die nie zum Jazz gehen

Bekannt wurden The Bad Plus mit einer Coverversion von "Smells Like Teen Spirit". Eine Jazzband, die Pop nachspielt, das war vielen verdächtig. Auf "Prog" tun sie es erneut, diesmal sind David Bowie und Burt Bacharach dran.

The Bad Plus Prog

Die Amazon-Konsumenten jammerten vor zwei Jahren über die CD Suspicious Activity? von The Bad Plus, dass diese Band mit jeder Platte schlechter werde. Sie erfüllte die Erwartung nicht, die beste, lauteste, radikale Alternative zum typischen Piano-Trio zu sein. Die neue CD von The Bad Plus verspricht nun Besserung: Prog.

Der Bassist Reid Anderson, der Schlagzeuger David King und der Pianist Ethan Iverson spielen seit 17 Jahren zusammen. Die drei Musiker wuchsen in Minnesota und Wisconsin auf, früh haben sie sich als Protestbewegung gegen den Mief ihrer Elternhäuser verstanden. Wer wie Ethan Iverson mit Glatze, Sonnenbrille und Krawatte auftritt, sei in einem kleinen Dorf per se ein Außenseiter, sagt David King über seinen Pianisten.

Die Aufregung um The Bad Plus begann im Jahr 2002 mit These Are The Vistas, ihrer ersten CD für die große Firma Columbia. Der schwarze Publizist Stanley Crouch verdächtigte damals die weißen New Yorker Jazz-Kritiker, mit ihrer Begeisterung für die weiße Band Rassismus zu praktizieren. Crouch sprach von einer Verschwörung gegen die schwarze Ästhetik. Schwarze Kritiker wie Willard Jenkins und John Murph mutmaßten, dass wohl nie einer von The Bad Plus erfahren hätte, wenn es die Verschwörung weißer Jazzkritiker nicht gäbe. The Bad Plus, behaupteten sie, sei deren Produkt.

Noch etwas anderes verschaffte der Band Aufmerksamkeit. Auf These Are The Vistas befand sich eine Coverversion von Nirvanas Smells Like Teen Spirit. Eine Jazzband spielt Popmusik nach? Das war vielen verdächtig. Auf Prog tun sie es erneut, sie interpretieren David Bowies Life On Mars und Everybody Wants To Rule The World von Tears for Fears neu. Und Burt Bacharach: This Guy's in Love With You.

Vielleicht sind sie auch bekannt, weil The Bad Plus Menschen ansprechen, die nie freiwillig zu einem Jazzkonzert gingen. So heißt es oft, ihr Jazz klinge kalkuliert, wie für ein Pop-Publikum. Zweifler überzeugen The Bad Plus am ehesten mit ihrem handwerklichen Können. Sie finden es ganz normal, mit Popthemen zu experimentieren. Warum sollten sie noch eine Platte mit den Melodien von George Gershwin und Cole Porter aufnehmen?

„Prog“ von The Bad Plus ist erschienen bei Do The Math Records/Heads Up/Emarcy

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Abbey singt Abbey

Sie gilt als sozialkritisch, dabei singt sie einfach von ihrem Leben. Mit 77 Jahren hat die amerikanische Sängerin Abbey Lincoln nun einige ihrer Lieder noch einmal aufgenommen.

Abbey Lincoln

Abbey Lincoln wohnt nahe dem Duke Ellington Boulevard in New York. Blumen und Gardinen versperren den Blick aus ihrer geräumigen Wohnung im Erdgeschoss, die Ruhe und Einsamkeit ausstrahlt. In ihrem Arbeitszimmer hängt ein großes selbst gemaltes Porträt von Miriam Makeba, auf deren Einladung sie einige Zeit in Afrika lebte. In der Diele zeugen Urkunden von einem bewegten Leben. Eine Auszeichnung des Washingtoner Presse-Clubs preist ihr Engagement für afroamerikanische Belange, die meisten Fotos in Abbey Lincolns kleinem Privatmuseum stammen aus den sechziger Jahren.

In ihrem Kampf um Anerkennung und Selbstfindung als schwarze Frau in der amerikanischen Gesellschaft orientierte sie sich an Billie Holiday. Ihre Aufnahmen seit Ende der fünfziger Jahre kann man als musikalischen Ausdruck dieses Kampfes hören. Kompromisslos wie die Musiker, mit denen sie arbeitete – ihr langjähriger Lebenspartner Max Roach und auch Eric Dolphy, Coleman Hawkins, Sonny Rollins, Stan Getz, all die großen Individualisten.

Vor zwei Monaten war Abbey Lincoln wegen einer Herzoperation im Krankenhaus. Ein Foto in den New York Daily News zeigte sie zusammen mit dem 88-jährigen Pianisten Hank Jones, der im selben Hospital ebenfalls gerade am Herzen operiert worden war. Dabei hatte sich die im Jahr 1930 geborene Sängerin für dieses Jahr so viel vorgenommen.

Gerade erschien ihre neue CD, Abbey Sings Abbey. Darauf interpretiert Abbey Lincoln – mit Ausnahme des Eröffnungsstücks Blue Monk – ausschließlich ihre eigenen großen Lieder. Eine changierende Leichtigkeit zwischen Chanson, Country Music und Delta Blues durchzieht die neuen Arrangements. Sie glaubt, dass der amerikanische Markt sie wegen ihrer sozial engagierten Texte übergangen habe – der französische Verve-Produzent Jean-Philippe Allard habe ihr Leben verändert, sagt sie, ohne Europe wäre es sehr schwer für sie gewesen. Auch die neue CD ist von der französischen Verve-Abteilung produziert worden.

Tatsächlich sei Abbey Lincoln an sozialen Themen interessiert, doch bis vor 30 Jahren habe sie noch nicht mal gewählt. Sie sei so sozialkritisch, wie Billie Holiday und Bessie Smith es waren, sie singe einfach von ihrem Leben, erklärt sie. Im Gespräch schwankt sie zwischen Stolz und Traurigkeit.

Ihre Komposition Love Has Gone Away ist ein sehr positives Stück, in dem es darum geht, alle Streitigkeiten und Konflikte hinter sich zu lassen und es stattdessen mit Liebe zu versuchen, Down Here Below hingegen ist die Klage über ein Leben. Sie habe von ihren Eltern gelernt, dass man sich schützen muss, indem man alles lernt. Ihr Vater konnte sein Auto selbst reparieren und später konnten ihre Brüder das auch. Ihre Mutter setzte zwölf Kinder in die Welt, doch als sie alt war, habe sich keines um sie gekümmert.

„Abbey Sings Abbey“ von Abbey Lincoln ist erschienen bei Verve/Universal

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Immer so weitergehen

Ulrich Gumpert und das Zentralquartett schrieben Jazz-Geschichte. In der Einflugschneise des Flughafens Schönefeld feierten sie die Freiheit der Musik. Jetzt gibt's eine neue Platte

Ulrich Gumpert Quartette

Für seine neue CD Quartette hat der Pianist Ulrich Gumpert auch einige Stücke aus den großen Tagen des Zentralquartetts neu eingespielt. Das habe nicht nur historische Gründe, sagt er. Es seien Stücke, die ihm besonders gut gefielen, und er habe seinen jungen Musikern auch die Geschichten erzählt, die sich hinter den Titeln verbergen. Im Unterschied zu früher gibt es heute statt der Posaune einen Bass.

Besonders bei den Konferenzen des Zentralquartetts ging es in den siebziger Jahren hoch her – man soff, man redete viel, man stritt auch und genoss die Freiheit der Musik. Man warf sich Hausnummern zu – „kennst du die Stelle, wo der Pianist sich verspielt?“ – und hörte sich die entsprechenden Stücke an. Später dann ging man zusammen proben. Der Posaunist Conny Bauer und der Schlagzeuger Günter 'Baby' Sommer wohnten damals nebeneinander in der Christburger Straße in Prenzlauer Berg, Ernst-Ludwig 'Luten' Petrowsky lebte weit draußen in der Einflugschneise des Flughafens Schönefeld. Man traf sich abwechselnd zur jeweiligen Conference at... bei Baby, Conny oder Luten.

Aus seinem Musikzimmer blickt Ulrich Gumpert auf das Theater am Schiffbauerdamm. In den Regalen stehen unzählige Tonträger, teilweise alphabetisch sortiert, teilweise nach Plattenfirmen. Die Platten von Blue Note sind ihm wichtig, er hat sie chronologisch aufgestellt. Auch die alten Scheiben von Fontana und Impulse! findet er auf Anhieb. Gumpert mag LPs, er hat noch einige 10-Zoll-Platten mit Dixieland aus den osteuropäischen Bruderländern, „damit fing alles an“, sagt er. Einige LPs, die John Tchicai für Fontana aufnahm oder Ornette Coleman für Impulse!, wurden wegen unklarer Rechtslage oder fehlender Bänder nie auf CD veröffentlicht. Fragt man ihn nach Colemans Crisis, springt er zum LP-Regal und sagt „bitte!“. Unlängst hat er das Original von seinem Saxofonisten Ben Abarbanel-Wolff bekommen, der hatte zwei.

Anders als im klassischen Jazz werden die Themen bei Ulrich Gumpert von Klavier und Saxofon unisono gespielt, auch auf Quartette. So spielt er seit den Siebzigern, in einer Übersetzung dessen, was er einst von Don Cherry und Ornette Coleman gehört hatte. Von Hier und Anderswo beschreibt er als ein einfaches Liedchen, sechzehn Takte, eine Stimmung wie in den Achtzigern. Damals hatte er es schon einmal für eine Solo-LP aufgenommen. Circulus Vitiosus klingt nach Thelonious Monk, wieder sechzehn Takte, immer die gleichen Harmonien. Acht plus acht Takte, nur das Thema wird einen Ton nach oben versetzt. Das sei der Trick, der dafür sorge, dass man nie genau wisse, wo der Anfang ist, verrät Gumpert. Und Miles Davis habe das mit Wayne Shorters Komposition Nefertiti noch viel besser hingekriegt: Sechzehn Takte Thema, achtzehn Mal gespielt, und das Gefühl, es könnte immer so weitergehen.

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Vergiss New York

Die Jazzwelt schaut nach Norwegen, von dort kommen derzeit die spannenden Töne. "Jazzland Community: Live" ist einer von vielen Beweisen

Jazzland Community Live

Im vergangenen Jahr feierte Bugge Wesseltofts Label Jazzland Recordings seinen zehnten Geburtstag. Aus diesem Anlass sollte es ein paar Jubiläumsauftritte in Norwegen geben, schließlich wurde daraus eine Konzertreise durch ganz Europa. Die Auftritte in Hamburg, Köln und Oslo wurden mitgeschnitten, Teile davon erscheinen jetzt auf der CD Jazzland Community: Live. Mit dabei sind neben Wesseltoft die Sängerin Sidsel Endresen, der Gitarrist Eivind Aarset, der Saxofonist Hakon Kornstad, der Bassist Marius Reksjo und der Schlagzeuger Wetle Holte.

Wesseltofts New Conceptions of Jazz hatten ihm und der Firma gleich zu Beginn großen Erfolg und internationale Beachtung beschert. Der junge norwegische Jazz ist seitdem auf den europäischen Festivals präsent, sicher nicht nur, weil der norwegische Staat seine Künstler bei Auslandstourneen finanziell unterstützt. Talentierten Nachwuchs gibt es in der norwegischen Metropole offenbar zuhauf. Die letzten kreativen Töne aus den USA seien mindestens vierzig Jahre alt, behauptet Wesseltoft. Das Zentrum für neue spannende Musik habe sich seitdem mehr und mehr nach Europa verlagert. Gerade in Skandinavien gibt es eine Menge guter Musiker, die an Klängen basteln, die einst vom Label ECM groß und bekannt gemacht wurden. Wesseltoft interessiert besonders die elektroakustische Welt, jene Mischung aus Jazz und elektronischer Musik, die als sehr europäische Kunstform gilt.

Er schwärmt von den Künstlern, die einst mit zeitgenössischer Musik und frühem Techno experimentierten und berichtet, dass Berlin in jener Entwicklung eine maßgebliche Rolle gespielt habe. Höhepunkte auf Jazzland Community: Live sind die Stücke mit Wesseltofts langjähriger musikalischer Partnerin Sidsel Endresen. Ihre Stimme betört, sie ist sehr weit entfernt von der Tradition des Jazz. Auch sie begrüßt es, dass die amerikanische Dominanz des Jazz in der öffentlichen Wahrnehmung bröckelt. Sie mag Billie Holiday und Chet Baker, doch die zahlreichen stilistischen Klischees, die es im Jazzgesang gibt, gefallen ihr nicht. Trotz großem Respekt für Ella Fitzgerald und Scat-Gesang habe sie diese Musik eigentlich nie wirklich hören mögen, gesteht Endresen. Deshalb schaute sie sich nach anderen Quellen um und nach neuen Wegen, ihre Stimme als Instrument einzusetzen. Das ethnische Segment wurde ihr zu einer großen Inspirationsquelle, Jan Garbarek ebnete da schon vor über dreißig Jahren Wege.

Die New Yorker Szene fühle sich keineswegs rückständig, auch wenn neue Töne von ihr zurzeit nur sehr spärlich kommen. Ihr sei wohl das Widerstandspotenzial abhanden gekommen, vermutet Endresen. Für sie ist klar, dass sich die Dinge auch wieder ändern werden. Bis dahin genießt sie das starke Interesse an der norwegischen Szene.

„Jazzland Community: Live“ ist erschienen bei Jazzland Recordings/Universal

Zur Veröffentlichung der CD startet die Jazzland Community ihr sogenanntes Sommercamp in Berlin. Vom 27.5. bis 17.7. spielen jeden Sonntag die Jazzland-Künstler auf dem Badeschiff. Hakon Kornstad eröffnet die Reihe am 27.5., Sidsel Endresen tritt zusammen mit Jan Bang am 3.6. auf, Bugge Wesseltoft spielt am 10.6. ein Soloklavierkonzert. Die Konzerte beginnen um 20 Uhr, der Eintritt beträgt 3 Euro.

Sidsel Endresen tritt auch beim Moers-Festival auf. Christian Broecking berichtet darüber in unserem Festival-Blog ZELT online
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Wo geht’s lang?

Einer der bekanntesten jungen Pianisten in Südafrika ist Andile Yenana. Durch die Stücke auf „Who’s Got The Map?“ klingt die Zuversicht der Menschen in seinem Land

Yenana Map

Auch 13 Jahre nach dem Ende der Apartheid steht Südafrika vor großen Problemen. Arbeitslosigkeit, Armut und Aids sind schwer in den Griff zubekommen, akzeptabler Wohnraum fehlt für die Mehrheit der Bevölkerung, das Ausbildungssystem entwickelt sich nur schleppend. Doch die jungen Menschen im Land verbreiten Zuversicht. Ob in den Stadtzentren von Johannesburg und Kapstadt oder in den Townships Soweto und Langa – viele Südafrikaner sind optimistisch.

Auch der Pianist Andile Yenana ist zuversichtlich, die mangelnde Orientierung der Menschen und fehlende Transparenz in der Politik geben ihm jedoch zu denken. Who’s Got The Map? fragt er auf seiner aktuellen Platte, die in Südafrika schon vor zwei Jahren erschien und jetzt endlich auch in Deutschland erhältlich ist. Der Vertrieb Rough Trade hat sich der Platten des südafrikanischen Labels Sheer Sound angenommen.

Es wird auch Zeit. Seit Abdullah Ibrahim hat die südafrikanische Jazzszene keine großen Namen mehr exportiert. Dabei sei Südafrika ein Land, in dem Jazz das ganze Jahr über ein Thema ist, berichtet der 1968 geborene Andile Yenana. Die Zeitungen seien voll davon, die Leute hören sich zusammen mit Nachbarn und Freunden Jazzplatten an, meist altes Blue-Note-Zeug aus den sechziger Jahren. Das hätten schon seine Eltern so gemacht, sagt er.

Noch habe der südafrikanische Jazz keine eigene Ästhetik gefunden, die dem Leben nach der Apartheid entspricht, sagt Yenana. Doch die Musiker seien inspiriert, und es gebe viele Festivals. Nun müsse man sich auf die Entwicklung kleiner Clubs konzentrieren.

Andile Yenana möchte die Menschen ermutigen. Die Aktivisten der sechziger Jahre, die Kämpfer für schwarzes Selbstbewusstsein um Steve Biko, sind tot. Die erste Generation nach der Apartheid sei ein Phänomen, findet Yenana. Zum ersten Mal gebe es in seinem Land nun Musik, die von jungen Leuten dominiert wird. Doch ihre Strukturen sind unterentwickelt, bemängelt er. Die Mehrheit der Südafrikaner lebt außerhalb der großen Städte, die Apartheid hat die Leute davon abgehalten, sich öffentlich zu treffen.

Yenana studierte Klavier bei Dave Brubecks Sohn Darius, der schon lange Professor in Durban ist. Zwölf Jahre lang spielte er in der Band des virtuosen südafrikanischen Saxofonisten Zim Ngqawana. Dass Yenanas eigene Musik sich nicht ausdrücklich von den amerikanischen Vorbildern entfernt, verwundert nicht. Er hat auch gar nicht das Problem, sich davon befreien zu wollen. Denn selbst wenn er die Nervosität des New Yorker Bop mit Township-Klängen mischt, bleibt das für Yenana doch afrikanische Musik. Sein Kontinent ist für ihn der Ursprung guter Musik, Mutter Afrika gibt ihm Halt.

„Who's Got The Map?“ von Andile Yenana ist erschienen bei Sheer Sound/Rough Trade

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Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)

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