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Wasser in die Glut

 
Mit Massive Attack und Portishead kam Mitte der Neunziger auch der Rapper Tricky zu Ruhm. Nun erscheint sein neues Album »Knowle West Boy« – ein dröhnendes Manifest der Unzufriedenheit.

Tricky West Knowle Boy

Der Journalismus gerät oft in die Zwickmühle verschiedener Interessen. Das ist in der Politik und der Mode nicht anders als in der Musik.

Was hat das mit Tricky zu tun? Vorfreudig bestellt der Journalist ein Vorabexemplar von Trickys neuem Album Knowle West Boy. Von dessen Plattenfirma erhält er eine prompte Antwort: Man habe Rezensionen des Autoren gelesen, da seien ja manche Platten nicht so gut weggekommen. Obwohl diese zwar von anderen Firmen veröffentlicht wurden und mit Tricky nichts zu tun hatten, sehe man doch von einer Bemusterung ab. Das Album solle Schreibern zukommen, die sich »auch wirklich freuen«, nur ungern würde man »Verrisse riskieren«.

Moment mal: Werden Journalisten nach ihrer Willfährigkeit und Kritikunfähigkeit ausgewählt? Oder steht die Plattenfirma nicht zu ihrer Produktion?

Zu Musik kann man tanzen, weinen und trinken. Man kann über sie streiten und von ihr schwärmen. Man kann sie lieben und auch hassen, denn Musik vermittelt Identität. Die Musikindustrie ist ins Straucheln geraten, sie sollte nicht den Fehler begehen, den Journalismus als verlängerten Arm ihres Marketings anzusehen. Das wäre schlimm, es läse sich wohl etwa so: »Die TripHop-Legende Tricky ist zurück mit dem Album des Jahres.« Weder dem Leser noch der Musik wäre ein Dienst erwiesen.

Musik wirft Fragen auf. Und man kann sie sich von Freunden ausleihen. Mittlerweile ist die Vorfreude des Rezensenten zwar erloschen, aber die war ja auch schon ein Vorurteil. Fangen wir also bei Null an.

Knowle West Boy nimmt dem Kritiker die Lust auf Bewertung. So ist das mit Trickys Alben. In seiner Musik wohnen das Seltsame und das schwer Fassbare, er hantiert mit dem Abgedroschenen. Sie ist gespalten – zwischen Uninspiriertem und Überwältigendem.

Die Materialien auf Trickys Baustelle kommen aus dem Punk, dem HipHop, dem Industrial – und unzähligen weiteren Spielarten. Anderer Musiker Leichtigkeit verwandelt Tricky in Schwere. Ähnlich wie seine Mentoren Mark Stewart und Adrian Sherwood: Sie heizten dem sonnigen Reggae solange ein, bis er zu einem flammenden Inferno wurde. Tricky kippt Wasser in die Glut. Wo es eben loderte, hängen nun Eiszapfen.

Von der Blues-Bar zum Rap der Straße sind es in Bristols Stadtteil Knowle West nur ein paar Meter. Man muss nur eben durch den Nebel, die esoterischen Schwaden durchstreifen. Das Richtungslose gehört zu Tricky wie ein Kaktus in die Wüste. Er hat das Launische in seine Musik integriert, es bietet ihm Schutz und spendet Kraft. Und nur wenn auch seine Hörer richtig unzufrieden sind, kann er granteln. Seine Musik strebt nicht nach dem Glück. In den guten Momenten des Albums steht die Zeit. In den schlechten drischt ein harter Rhythmus auf die Ohren ein. Bässe pumpen in der Magengegend. Tricky tätowiert Musik. Und das piekt auch mal.

Jemand, der dermaßen unberechenbar handelt und musiziert, kann kein Karrieremusiker sein. Nie schlachtet er seinen Ruhm aus, nie reproduziert er das Errungene. Immerneue Versatzstücke baut er in seine Lieder ein. Nur eines bleibt auch mit Knowle West Boy beim Alten: Tricky krächzt, eine Frau singt. Es ist vollkommen egal, wie lange er kein Album gemacht hat. Mit Zeit hat er nichts zu schaffen.

»Knowle West Boy« von Tricky ist als CD und LP bei Domino Records/Indigo erschienen.

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