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Explosion mit Botschaft

 
Mit 17 Jahren gründete Mark Stewart die Pop Group, sie prägte den Post-Punk der frühen Achtziger. Sein neues Solowerk „Edit“ ist so kraftvoll und brachial wie die früheren Alben, bisweilen aber klingt es etwas unfertig.

Mark Stewart Edit

Malcolm McLaren hatte einen einfachen Plan im Jahr 1976 in London: Finde ein paar seltsame Typen, die ein Instrument halten können, und stecke sie in zerschlissene Klamotten. Erkläre ihnen, dass sie eine Band sind, provoziere ein paar kleine Skandale, ziehe einen riesigen Plattenvertrag an Land. Provoziere ein paar große Skandale und kassiere am Ende ab. So simpel, so aufsehenerregend und gewinnträchtig. Hauptdarsteller in McLarrens Schmierenkomödie waren die Sex Pistols, sie spielten den Punk. Ihre Botschaft? Nun ja, es gab eigentlich keine.

Einen ähnlich einfachen Plan verfolgten wenig später ein paar junge Männer in Bristol: Sie gründeten eine Band, eine Popgruppe, die sie schlicht Pop Group nannten. Sie bekamen einen Plattenvertrag, gelangten auf das Titelbild des NME und ins Fernsehen. McLaren hatte verrückten Typen die Tür geöffnet. Aber es gab zwei wesentliche Unterschied zu den Sex Pistols: Die Musiker der Pop Group traten schicker auf, und sie waren Intellektuelle. Sie hatten eine Botschaft.

Mark Stewart, der Kopf und Sänger der Band, war damals 17 Jahre alt. Er mochte P-Funk, Reggae, Punk und Dub. Genau wie seine fünf Mitstreiter schwärmte er für expressionistische Malerei, für Fluxus, Dadaismus und Aktionismus. Die Pop Group wollte Elemente dieser Kunstrichtungen in ihrer Musik vereinen, unglaublich viele Platten verkaufen und ihre subversiven Ideen in die Köpfe der Menschen pflanzen. Zum verzerrten Punk-Funk der Pop Group überschlug sich Stewarts Stimme. Er schrie mehr als er sang.

Seine Texte waren Collagen. Politische Parolen vermischte er mit Werbesprüchen, Agit-Prop mit der Cut-up Methode des Schriftstellers William S. Burroughs. Auf der Rückseite von We Are All Prostitutes, der bekanntesten Single der Pop Group, brüllte er Auszüge aus dem Jahresbericht von Amnesty International. Nach zwei Jahren löste sich die Pop Group auf, Mark Stewart gründete mit dem Schlagzeuger Bruce Smith und Ari Up von den Slits die New Age Steppers. Mit deren Produzenten Adrian Sherwood bildete Stewart später die Band Maffia. Ihr von Dub und Reggae beeinflusster Stil war wegweisend für Massive Attack, Portishead und Tricky.

In den vergangenen zwölf Jahren war Stewart vor allem als Produzent tätig. Nun kehrt er mit einem neuen Album zurück, Edit. Es ist so kraftvoll und brachial wie seine früheren Alben, bisweilen aber klingt es etwas unfertig. Raum für schöne Klänge ist hier nicht, die Beschallung von Kaffeehäusern überlässt Stewart den Kollegen von Massive Attack. Zu seinen Klängen lümmelt man sich nicht in dicke Polster oder schlürft Latte Macchiato.

Adrian Sherwood hat das Album produziert. Stewart und er lassen altmodische HipHop-Rhythmen auf indische Tabla-Klänge treffen. Die Techno-Statik in Loner und Almost Human erinnert an die Electronic Body Music der frühen Achtziger. Der Synthesizer fiepst den P-Funk, die Gitarre klingt wie der Fingernagel auf der Schultafel. Der Klassiker der Yardbirds, Mr. You’re A Better Man Than I wird durch den Reißwolf gejagt. Mit Ari Up, der Weggefährtin aus alten Tagen, kämpft sich Stewart durch ein dubbiges Inferno.

Der Journalist Alan Bangs sagte nach einem Konzert der Pop Group einmal, er habe sich gefühlt, wie im Zentrum einer Explosion. So klingt es eigentlich immer, wenn Mark Stewart zu Werke geht.

„Edit“ von Mark Stewart ist auf CD und Doppel-LP bei Crippled Dick Hot Wax erschienen.

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