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Übersteuerung! Rauschen! Jawoll!

 

Tortoise war immer eine Rockband mit Vibrafon und ohne Sänger. Auf ihrem neuen Album klingt sie wie früher, nur mit neuen Mitteln.

Cover

 
Tortoise – High Class Slim Came Floatin In
 
Von dem Album: Beacons Of Ancestorship Thrill Jockey 2009

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Nein, das kann kein Zufall sein: Die Wellen der globalen Krisen schlagen täglich über uns zusammen, die Wirtschaft wankt, die Schweinegrippe tobt, im Nahen Osten kracht’s. Da schiebt die Schildkröte ihre Gliedmaßen aus dem Panzer, reckt den faltigen Hals und blinzelt. Zeit für ein paar krisenfeste Takte. Tortoise aus Chicago haben ihr sechstes Album aufgenommen, Beacons Of Ancestorship. Als sei nichts geschehen, verwirbeln sie die Takte, hallt die Snare, drängt der Bass. Ja, das ist Rock!

Rock? Halt! Wird ihre Musik nicht Post-Rock genannt, seit sie Ende der Neunziger mit dem verhuschten Album T.N.T. bekannt wurden? Rockmusik, die die Rockmusik überwunden hatte? Ja, weshalb eigentlich? Weil sie sich Rockergesten sparten? Weil sie keinen Sänger hatten? Weil sie Vibrafonklänge und Elfachteltakte in ihr brodelndes Gebräu gossen? Als müsse Rock immer blöde sein. Wie schlecht Tortoise in diese Schublade passten, zeigten sie mit dem folgenden Album, dem irren Standards. Nein, Tortoise war immer eine Rockband mit Vibrafon und ohne Sänger.

Und sie sind eine Rockband, mehr denn je: Lauter als auf Beacons Of Ancestorship ließen sie die Gitarren nie klingen, der Bass scheint unzähmbar zu sein. Übersteuerung! Rauschen! Mit voller Absicht! Jawoll! Meilenweit entfernt haben sich Tortoise von dem pointierten Geraschel ihres opus magnum T.N.T., aber auch von dem dick aufgetragenen, bald pathetischen Schmonz ihres letzten Albums It’s All Around You. Auf der Hülle wucherten damals Flora und Fauna in Airbrush-Ästhetik, aus den Rillen sangen die Gitarren halbgare Lieder.

Fünf Jahre sind seitdem vergangen – in der Zwischenzeit spielten Tortoise gemeinsam mit Bonnie „Prince“ Billy ein obskures Album mit Coverversionen von Bruce Springsteen und Elton John ein. Mutwillig übersteuert, klanglich, inhaltlich. Das war eigentlich eine Zumutung. Zwischenwerke, im Nachhinein lässt sich das sagen. Nun sind Tortoise wieder auf dem Weg.

Auf dem Weg in die Vergangenheit? Was sonst soll dieser Titel bedeuten? Ist das Ironie? Muss wohl. T.N.T. war nicht explosiv, mit Standards wollten sie sicherlich keine Standards setzen. So ist auch Beacons Of Ancestorship keine Huldigung des Vergangenen. Und schon gar nicht der eigenen Geschichte. Ihr auffälligstes Instrument, das Vibrafon, haben sie gar in die Ecke gestellt. Stattdessen grooven analoge Synthesizer. Meistens mehrere auf einmal, jeder auf einem eigenen Weg, mal vor, mal zurück.

Das ist alles ziemlich unerhört: Der wilde Shuffle Northern Something, der gnadenlose Punkfeger Yinxianghechengqi. Dieses Lied hätten Wire Ende der Siebziger spielen können. Und hätten Tortoise in den Achtzigern Titelmusiken von Fernsehserien komponiert, dann hätten die wohl geklungen wie Prepare Your Coffin. Unruhig lässt einen das letzte Stück Charteroak Foundation, da laufen Dreiviertel und Vierviertel parallel.

Leuchten hier also doch die Fackeln der Ahnen? So leicht lassen sich Tortoise nicht festzurren: Sie klingen wie die Alten – mit neuen Mitteln. Oder klingen sie vollkommen neu – mit den alten Mitteln?

„Beacons Of Ancestorship“ von Tortoise ist auf CD und LP bei Thrill Jockey/Rough Trade erschienen.

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