Der Amerikaner Vijay Iyer gilt als der Jazzpianist der Stunde. Sein neues Trio-Album ist utopisch, spannungsgeladen und immer wieder überraschend.
Zwei Töne nur, auf dem Klavier im Bassregister gespielt – mehr braucht es nicht, um eine Bewegung zu schaffen. Vijay Iyer nimmt sie mit der rechten Hand auf, verformt sie schnell zu eckigen Floskeln aus dem Schatzkästlein des Bebop und begibt sich auf eine Reise durch die Geschichte des Jazzpianos: Historicity, Titelstück und Opener des neuen Albums des Vijay Iyer Trios.
Gehämmerte Blockakkorde, das Zerfließen von Harmonie in perlende Melodieläufe, die sich langsam mit Spannung anreichern, dann wieder ein zackiges Gegeneinander von Bass und Akkord wie zu Hochzeiten des Stride Pianos. Eines folgt wie zwangsläufig auf das andere, bevor sich gegen Ende des Stückes der Puls verzögert und eine Melodie aus den feierlich ausgebreiteten Arpeggien auftaucht.
Man muss nicht frei spielen, um frei über das musikalische Material zu verfügen, und nicht historisierend, um sich in eine Traditionslinie zu stellen.
Die internationale Jazzpresse feiert Vijay Iyer als den Jazzpianisten der Stunde. Ein Pianist, der eigene Wege geht und nach Lehrjahren an der Seite von formbewussten Avantgardisten wie George Lewis, Steve Coleman oder Roscoe Mitchell, frei ist von nostalgischen Aufwallungen.
Weder imitiert er den Nachtclub-Glamour aus der goldenen Ära des Jazz, noch überschwemmt er den Hörer mit einer Flut von Arabesken, noch trauert er dem Free Jazz hinterher: Eher strebt Iyer, wie er kürzlich in einem Interview betonte, in seiner Musik nach „einer gewissen mathematischen Eleganz“. Und verleiht ihr ganz nebenbei die Dringlichkeit, die sie aus der Flut von Piano-Trio-Aufnahmen heraushebt.
Ähnlich wie die afroamerikanischen Gründerväter des Jazz ist Vijay Iyer doppelt geprägt: zugehörig, aber unübersehbar anders. Unbestritten ein Amerikaner, als Sohn indischer Einwanderer jedoch mit einem zweiten biografischen Bezugsrahmen aufgewachsen. Im günstigen Fall wird man weltläufiger auf diese Art, freier.
Iyer studierte Mathematik und Physik, vertiefte sich in die Neurowissenschaften und wurde mit einer Arbeit über den Zusammenhang von Denken und musikalischen Rhythmen promoviert. Als Jazzmusiker dagegen ist er Autodidakt, ein Pianist, der sich sein Können jenseits der Lehrpläne der Jazzhochschulen erarbeitet hat. Schon deshalb geriet sein Spiel nicht in Gefahr, sich mit üblichen Floskeln so tief einzufräsen, dass kein Raum bleibt für das Finden neuer Lösungen.
Iyer weiß, was er tut: Vier eigenen stellt er auf dem Album Historicity sechs Fremdkompositionen gegenüber, die seine Haltung zur Geschichte illustrieren. Leonard Bernsteins Stück Somewhere zum Beispiel verweist auf den utopischen Ort, der musikalisch beschworen wird und macht Iyer zum Teil der Bürgerrechtsbewegung. Und so wie das Trio den Song spielt, ist der Weg vom sonnigen Walking Bass zur Utopie noch nicht bewältigt; noch gibt es reichlich Reibung und Dissonanzen, noch sind Phrasen und Formteile verschoben, manchmal um einen Takt verlängert, dann wieder komprimiert oder auch beides zugleich.
Während Iyer und der Bassist Stephan Crump den Puls stabilisieren, unterzieht ihn Marcus Gilmore am Schlagzeug einem Belastungstest und schafft anschließend den Raum, in dem Iyer und Crump melodische Ideen entwickeln. In Galang, der Bearbeitung eines Popsongs von M.I.A., verdichten die drei die Rhythmen zu einem merkwürdig abstrakten Groove, in dem die Teile wie Bausteine miteinander verbunden sind. Fliegend wechseln die Rollen im Zusammenspiel dieses Trios, das frei und gleichberechtigt ist, zugleich aber auch rücksichtsvoll und höchst diszipliniert. Utopisch eben, spannungsgeladen und immer wieder überraschend.
„Historicity“ vom Vijay Iyer Trio ist auf CD und LP erschienen bei ACT/edelkultur.