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First Lady im Untergrund

 

Mary Anne Hobbs gehört zu den wenigen Radioleuten, die schneller sind als das Internet. In ihrer BBC-Sendung und auf Kompilationen stellt sie Elektro-Trends vor

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Mary Anne Hobbs erinnert auf Fotos mitunter ein wenig an die Düsseldorfer Fönwellen-Sängerin Doro Pesch. Eine Frau aus der Welt des schweren Rock und schwerer Motorräder, das ist der erste Eindruck – und tatsächlich: Die 45-Jährige aus Sheffield verehrt die Gruppe Mötley Crüe, ist nach eigener Auskunft in der Lage, jedes Motorrad zu fahren, das man ihr vor die Tür stellt, und studiert regelmäßig die Fachblätter Motorcycle News, Two Wheels Only und Performance Bikes.

Mit der Musik, die sie in ihrer wöchentlichen Radiosendung auf BBC 1 spielt, wird sie allerdings die Durchschnittsleser besagter Magazine kaum vom Ofen herunterlocken. Elektronische Klänge aus lustig betitelten Genres wie Wonky, Funky und Aquacrunk sind dort zu vernehmen, und so, wie sich diese Namen anhören, klingen oft auch die Stücke: nach einem schwer zu fassenden Grummeln, Brummen und Rumpeln, zusammengehalten von ultratiefen Bässen. Wenn Hobbs Gäste für DJ-Sets ins Studio einlädt, könnte man meinen, der alte Radiokahn werde von Piraten gekapert.

Mit klassischer Motorradfahrermusik hat das nichts zu tun – bis auf die Tatsache, dass hier wie dort Männer klar in der Überzahl sind. Mary Anne Hobbs allerdings nimmt im britischen Bassmusik-Untergrund längst die Rolle der First Lady ein. Sie ist diejenige, die die Kellerluke öffnet, die wohl wichtigste und engagierteste Botschafterin, von den Musikern ebenso respektiert wie von der Sendeleitung. Und sie gehört zu den wenigen verbliebenen Radioleuten, die schneller sind als das Internet. Was in ihrer Sendung gespielt wird, ist hinterher ein Thema in Blogs und Foren – und nicht umgekehrt.

© PR
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Bisweilen landet es auch auf von ihr zusammengestellten Kompilationen. Gerade ist die dritte erschienen, sie heißt Wild Angels. Das ist keine Hommage an Doro, sondern eine Umschreibung, die Hobbs für das Harfenspiel von Alice Coltrane erfunden hat. Konkrete Verknüpfungen mit dem Universum des Free Jazz lassen sich auf Wild Angels zwar nicht erkennen. Eine entscheidende Parallele gibt es aber trotzdem: Sowohl bei Coltrane als auch bei Hobbs geht es um die Auflösung starrer Formen.

Am Anfang steht denn auch ein Fragezeichen: ? heißt das erste Stück, der Wahl-Australier Mark Pritchard lässt darin auf zwanzig Sekunden Stille fünfeinhalb Minuten Ruhe folgen. Wohin mag die Reise gehen? Schon mit dem zweiten Titel, Spotted von Hudson Mohawke aus Glasgow, schält sich die Richtung heraus: Der erste Beat stolpert herein, verhakelt sich sogleich, Spielkonsolengeräusche irrlichtern durch den Raum, nichts ist hier niet- und nagelfest.

In diesem Stil geht es weiter, bis der Datenträger voll ist. Die Künstler nennen sich Untold, Darkstar, Rustie oder Floating Points, ihre Töne klingen häufig, als habe sie jemand mit ätzender Fluorfarbe vollgesprüht. Aber immer dann, wenn es zu bunt zu werden droht, kehrt auch ein bisschen Frieden ein: Hin und wieder lugt eine hübsche Melodie aus dem Groove-Gewirr hervor, schieben sich Stimmen zwischen das Maschinengestotter, wird die Struktur etwas geradliniger.

Wenn man R’n’B, Soul, HipHop und Dubstep in eine Wäscheschleuder steckte, käme vielleicht Musik wie diese heraus. Das Faszinierende liegt gar nicht so sehr in den permanenten Brüchen selbst, sondern vielmehr darin, dass alles ineinander fließt. Minus mal Minus ergibt Plus – das Spiel mit gewollten Ungenauigkeiten, Zufällen und Fehlern entwickelt seine ganz eigene Regelmäßigkeit. Wer gerade von der Schicht kommt und Entspannung sucht, tut sich mit solcher Musik natürlich keinen Gefallen. Im Zustand seelischer Ausgeglichenheit aber lässt sich die Schönheit von Wild Angels durchaus genießen.

Born To Be Wild wäre eigentlich auch ein passender Titel gewesen. Die Zeiten, in denen der Begriff „Freiheit“ vor allem mit Biker-Rock assoziiert wurde, sind schließlich schon lange vorbei. Es gibt vermutlich nicht viele beinharte Motorradfreaks, die sich dessen so sehr bewusst sind wie Mary Anne Hobbs.

„Wild Angels“ von Mary Anne Hobbs ist auf CD, Doppel-Vinyl und als Download bei Planet Mu erschienen.