Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Verdammt funky, diese Deutschen

 

Über die Jahre (58): Kraftwerk haben all ihre Alben technisch überarbeitet. Erstaunlich, dass ausgerechnet die Pioniere der elektronischen Musik so spät im digitalen Zeitalter ankommen.

© EMI Music
© EMI Music

Sie sind auch nur Menschen. In einem Fernsehbericht aus den siebziger Jahren sind zwei Herren zu sehen, einer bläst die Querflöte, der andere dreht gedankenverloren an Knöpfchen herum. „Wir können nicht so gut reden, deswegen machen wir Musik“, lautet die Erklärung für den seltsamen Auftritt. Schon sehr bald werden die beiden Herren gar nichts mehr sagen. Die Musikstudenten Ralf Hütter und Florian Schneider aus Düsseldorf überlassen lieber dem Computer das Reden. Schon sehr bald werden Kraftwerk auch nichts mehr erklären müssen. Auf ihren Platten kann die Welt hören, wie Popmusik zukünftig klingen wird.

Erstmal müssen Hütter und Schneider jedoch selbst singen. Als 1974 Kraftwerks Album Autobahn erscheint, hat die Gruppe schon zwei Platten veröffentlicht – nahezu unbeachtet. Die Kraftwerk-Zeitrechnung beginnt erst mit dem 22-minütigen Titelstück. Dass man elektronische Instrumente so virtuos steuern kann, gilt als vollkommen neuartig. Eine dreiminütige Version des Liedes schafft es in England und den USA sogar in die Charts.

Hatte deutsche Popmusik bis dahin im Ausland kaum eine Rolle gespielt, gelten Kraftwerk nun als deren Aushängeschild. „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ – deutscher als Kraftwerk geht es kaum. Dabei verstehen Hütter und Schneider Kraftwerk als internationale Band.

Ihre Platten erscheinen in englischer und deutscher Sprache. Die Gruppe hat Fans in Brasilien, Japan und den USA. Ansonsten gibt sie sich unnahbar: Interviews finden nicht statt, die Musiker treten nur selten vor die Kamera. Kraftwerk inszenieren sich als künstliche Wesen. Für ihre Plattencover lassen sie sich im Stil des russischen Konstruktivismus oder nach Art alter Modemagazine fotografieren. Kraftwerks Ästhetik führt Nostalgie und technisierte Gegenwart zusammen. Die Musik der Gruppe aber weist in die Zukunft.

Während Autobahn noch deutlich nach Krautrock und Avantgarde klingt, wird spätestens mit Radio-Aktivität deutlich: Hier sind keine Mucker am Werk, sondern Ingenieure. Die eigenen Klingklang-Studios in Düsseldorf sind Proberaum und Forschungslabor zugleich. Mit kühler Präzision konstruieren Florian Schneider, Ralf Hütter, Wolfgang Flür und Karl Bartos hypnotische Endlosschleifen aus Rhythmen und elektronischen Klängen. Vor allem aber funktionieren Kraftwerks elektronische Symphonien als großartige Popsongs. Lieder wie Neonlicht oder Das Modell tragen unwiderstehliche Melodien.

Während Deutschland noch Disco tanzt, verkündet die Gruppe im Jahr 1978 lakonisch Wir sind die Roboter. Haben Kraftwerk bisher auf der Bühne noch selbst das Tanzbein geschwungen, stehen nun vier eigens angefertigte Roboter an den Geräten. Vorbei ist’s mit dem klassischen Bandkonzept, das die Rockmusik jahrzehntelang geprägt hat. Kraftwerks Musik ist zu einem Klangdesign geworden, das Unzählige beeinflusst.

In New York spielt der Hiphop-DJ Afrika Bambaataa Kraftwerks’ Trans-Europa Express auf den Block Partys. Die Melodie sampelt er später in seinem eigenen Hit Planet Rock. In der schwarzen Hiphop-Szene sind Kraftwerk ungeheuer populär; Breakdancer wirbeln zu ihren Stücken über den Asphalt. Die weißen Typen aus Deutschland sind einfach verdammt funky.

Auf Computerwelt von 1981 perfektionieren Kraftwerk ihren minimalen Elektropop. Die Musik wird deutlich tanzbarer. In Detroit trauen Musiker und DJs ihren Ohren nicht. Fasziniert von den neuartigen Klängen, mischen Musiker wie Juan Atkins, Derrick May und Kevin Saunderson Kraftwerks Elektropop mit dem Funk von Prince, Parliament und James Brown. Es ist die Geburtsstunde von Techno.

Doch Mitte der Achtziger Jahre stockt die Mensch-Maschine. Während Kraftwerk sich in ihr Studio zurückziehen, entsteht eine Generation junger Technomusiker. Sie alle haben von Kraftwerk gelernt, jetzt ziehen sie an ihnen vorbei. Auf Electric Cafe klingen Kraftwerk erstmals uninspiriert und wenig innovativ. „Es wird immer weitergehen / Musik als Träger von Ideen“, spricht die Computerstimme. Davon ist in den kommenden Jahren jedoch wenig zu spüren. Der Versuch, mit der Zusammenstellung The Mix ihre besten Stücke für den Tanzboden aufzupeppen, misslingt. Im Jahr 2003 können Kraftwerk mit Tour de France noch einmal ein Comeback feiern, doch neue Impulse bleiben aus. Die Musikindustrie hat zu Kraftwerks musikalischen Visionen mittlerweile aufgeschlossen.

Da bleibt nur noch die gewinnbringende Verwaltung des eigenen Legendenstatus: Kraftwerks Alben sind nun in digital überarbeiteter Form in dem Box-Set Der Katalog erschienen. Erstaunlich, dass ausgerechnet die Pioniere der elektronischen Musik mit gehöriger Verspätung im digitalen Zeitalter ankommen. Immerhin liegt die Erstveröffentlichung der Alben auf CD schon mehr als zwanzig Jahre zurück.

Bisher hatte es die Band versäumt, den eigenen Werkkatalog digital konsequent aufzubereiten. Angesichts des Perfektionismus und der hohen technischen Ansprüche der Musiker erschien dieser Schritt überfällig. Auch wenn es musikalisch nichts Neues zu entdecken gibt, ist Der Katalogbeeindruckend. Tonqualität und Gestaltung sind großartig. Warum auch sollten Kraftwerk jetzt mit den alten Gewohnheiten brechen. Die Mensch-Maschine macht weiter, heute ohne Florian Schneider. Boing, Boom, Tschack.

Das Box-Set „Der Katalog“ von Kraftwerk erscheint bei EMI/Capitol. Die Box enthält alle Kraftwerk-Alben von 1974 bis 2003 in digital überarbeiteter Fassung mit neu gestalteten Plattenhüllen. Die Alben sind auch als Einzelausgaben erhältlich.