Johnny Cash hat seiner Tochter Rosanne eine Liste der 100 wichtigsten Country-Songs hinterlassen. Jetzt hat die 54-Jährige ein Album draus gemacht. In den USA ein Renner.
Braves Töchterchen. Rosanne ist 18, als sie ihrem Daddy eröffnet: Sie will in seine Fußstapfen treten und Songwriterin werden. Johnny Cash, dem sie ihre Ambitionen im Tourbus unterbreitet, freut sich ’nen Ast und erzählt ihr umgehend, welche Songs sie sich unbedingt anhören muss. Und erzählt. Und erzählt.
Aber Papas Songs sind nicht Rosannes Songs. Johnnys Erstgeborene ist bei der Mutter aufgewachsen, Vivian Liberto. Die Eltern haben sich 1960 getrennt, fünf Jahre nach Rosannes Geburt. Im Tourbus fährt die Tochter zunächst als Garderobenfrau mit, bevor er sie in den Bühnenchor lässt. Rosanne ist zwar im Country-Mekka Memphis, Tennessee, geboren, aber sie hört die Beatles und Elton John, Neil Young, Janis Joplin und Joni Mitchell. Wir schreiben das Jahr 1973.
Wie jetzt? sagt Paps, du kennst Miss The Mississippi And You nicht? Oder She’s Got You? Aber Girl from the North Country kennste? Ist ein Duett, Dylan und ich. Cash Senior sorgt sich: So unwissend kann er das Töchterchen nicht auf die Musikwelt loslassen, die Göre blamiert ihn ja! Johnny verzieht sich nach hinten. Gute zwei Stunden später überreicht er Rosanne eine Liste: „100 Essential Country Songs„.
Rosanne nennt das Kompendium schlicht The List. Weil sie wirklich ein braves Töchterchen ist, lernt sie viele der Songs, aber irgendwann landet die Liste in einer Kiste und gerät in Vergessenheit. Rosanne blamiert den Papa trotzdem nicht. Ihr Album Seven Year Ache schafft es 1981 an die Spitze der Country-Charts, und 1987 hat sie mit King’s Record Shop ihren größten Erfolg.
Die Neunziger sind wechselhaft: zwei introspektive, pessimistische Alben, von der Kritik gelobt, aber erfolgsarm, eine Zwangspause wegen Stimmbandproblemen, eine Scheidung. Cash schreibt lieber Bücher und heiratet den Produzenten und Musiker John Leventhal. 2003 ist sie mit Rules of Travel wieder da, auf dem sie mit ihrem Vater September When It Comes singt.
Im selben Jahr sterben ihre Stiefmutter June, ihr Vater Johnny und 2005 auch Rosannes leibliche Mutter Vivian. Das Album Black Cadillac (2006) steht unter dem Eindruck dieser Verluste. Für die Tour erarbeitet Cash eine Show mit Videos und Bildern aus der Familiengeschichte. Zwischen zwei Songs plaudert sie über den Country-Kanon aus dem Tourbus: „Alle kamen nach der Show zu mir: Was ist mit der Liste? Wo ist die Liste? Wann singst du die Songs von der Liste?“
Da plant Cash ohnehin ein Cover-Album – aber so eins? Mühsam ist sie aus dem Schatten des Vaters getreten, will jetzt, mit 54, nicht wieder nur Tochter sein. Und: „Als mein Vater mir die Liste gab, zeigte er mir etwas von sich selbst. Er sagte quasi: Das ist meine DNA, meine Seele.“ So viel von ihrem Vater muss Cash mit dem Publikum teilen, dass sie wenigstens die Liste für sich behalten will.
Die Lösung ist spitzfindig: Cash nimmt The List auf, behält die Liste aber für sich. Das Stück Papier, das Geschenk ihres Vaters, zeigt sie niemandem. Sie teilt nur die Songs. Die komplette Liste gebe die Evolution von Southern und American Roots Music chronologisch wieder, sagt Cash, jeder Song sei eine wichtige Wendemarke, von frühem Folk über Southern und Delta Blues und Gospel zur Carter Family und Jimmie Rodgers.
Vor dem Cash-Dylan-Duett Girl from the North Country hat Rosanne erst zu viel Respekt, dann ringt sie sich doch durch und nimmt es auf. Ebenso wie Bury Me Under the Weeping Willow von der Carter Family (aus der Stiefmutter June stammt), im Duett mit Rufus Wainwright Silver Wings von Merle Haggard, einem Weggefährten von Johnny Cash, und Long Black Veil, das Rosannes Vater beim legendären Konzert im Folsom Prison sang.
Die Tochter nähert sich den Erbstücken und Kronjuwelen behutsam an, wie dem Patsy-Cline-Klassiker She’s Got You. Prominente Duettpartner wie Jeff Tweedy von der Americana-Combo Wilco bei Long Black Veil, Bruce Springsteen bei Sea Of Heartbreak und der erfrischende Elvis Costello auf Heartaches By The Number halten sich zu Ehren der Gastgeberin vornehm zurück.
Das Resultat klingt mal ein bisschen nach Folk, mal nach Pop, mal gar nach Rockabilly – aber immer nach Country, und manchmal auch wie Country-Kitsch, wenn Produzent und Ehemann Leventhal (Elvis Costello, Kris Kristofferson, Willie Nelson) gar zu dick aufträgt. Cash hat das nicht nötig, wie der auf die Stimme und etwas reduzierte Standard 500 Miles beweist, oder auch Hank Snows I’m Moving On, das sie sich souverän aneignet. Diese Stimme ist es, deretwegen die zwölf Songs im Schnitt dann doch hörenswert sind.
Und die anderen 68 Songs der Liste? Ein paar gibt’s als Bonus bei iTunes, etwa Satisfied Mind im Duett mit Neko Case. Ein paar, sagt Cash, müsse man nicht zum hundersten Mal aufnehmen. Aber so gern Rosanne Cash gern wieder eigene Songs schreiben würde, der Erfolg von The List in den USA (wo das Album schon im Herbst erschien) legt den Verdacht nahe, dass es The List II geben wird, mindestens. Vielleicht sperrt sie Leventhal dann in den Schrank, in dem die Original-Liste liegt.
„The List“ von Rosanne Cash ist erschienen bei Manhattan/EMI.
Sehen Sie hier weitere Auftritte Rosannes mit ihrem Daddy. Außerdem: Alle sechs Töchter singen „Silent Night„, sehr komisch!