Lee Konitz ist ein Denkmal des Jazz, gelassen blickt der 82-jährige Saxofonist auf die Welt. Davon zeugt sein Konzertmitschnitt „Live at the Village Vanguard“
Gut abgehangen wäre stark untertrieben. Wenn Lee Konitz sein Saxofon ansetzt, wenn er in das Mundstück bläst, dann kommt da ein Ton, dem man sofort glaubt. Schrundig ist dieser Ton, voller Scharten und individueller Kanten, dabei zart und durchscheinend, gezeichnet von einem Leben und seinen Unwägbarkeiten – ein Ton wie ein weiser, alter Mann, der mit jedem Jahr gelassener auf die Welt blickt. Und der, ohne die Stimme zu heben, die Aufmerksamkeit so sehr auf sich richtet, dass es nur noch darauf ankommt, einen Hintergrund zu finden, vor dem er am besten zum Leuchten kommt.
Konitz ist ein Denkmal des Jazz, gute 60 Jahre sind vergangen, seit er mit dem Pianisten Lennie Tristano im heimischen Chicago neue Improvisationstechniken ersann und sich in New York als eine der prägenden Stimmen von Miles Davis’ Capitol Orchestra ins Geschichtsbuch einschrieb.
The Birth of the Cool stand damals auf dem Programm, eine deutliche Grenzverschiebung zum Muskelspiel Charlie Parkers, das damals die Jazzszene dominierte. Konitz wollte etwas anderes: Sein musikalischer Forschergeist bezog sich auf die Melodie, seine Freiheit fand er im Spiel mit ihren motivischen Dimensionen, mit rhythmischen Akzentverschiebungen und mit der strukturierenden Kraft der Stille. Wo andere wie gehetzt durch die Oktaven rasten, verzichtete Konitz demonstrativ auf ausuferndes Girlandenwerk, auf vorgefertigte Licks und virtuosen Tand und irritierte sein Publikum und manchmal auch seine Spielpartner mit der Konsequenz, nur das zu spielen, was ihm einfiel, und sei es nicht mehr als: nichts.
In dem Kölner Pianisten Florian Weber, dem US-Bassisten Jeff Denson und dem aus Israel stammenden Schlagzeuger Ziv Ravitz, die seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in Boston als Trio zusammenspielen, hat Konitz, der zwanzig Jahre lang in Köln lebte, Partner gefunden, die über genug Eigensinn und Substanz verfügen, ihn so stark unter Spannung zu setzen, dass er sie nun zu seinem „New Quartet“ erklärt hat. „The Lee Konitz idea in band format„, lobt ein Journalist, den Konitz in den Liner-Notes zu Live at the Village Vanguard zitiert.
Schnell versteht man, was gemeint ist: Wenn Ravitz zum Auftakt der CD, die 2009 in New York aufgenommen wurde, die Filzklöppel auf den Trommeln, die Melodie von Cherokee singen lässt, wenn Denson mit dem Bogen ein jüdisches Traditional intoniert, wenn Weber in einem Solo das Anfangsmotiv von I Remember You umspielt, um sich anschließend mit der Band auf unbekanntes Terrain vorzutasten, dann entwickelt sich die Musik in größtmöglicher Freiheit, im Gegenüber von vier Musikern, die einander Raum lassen und die Melodie in Ehren halten, statt sie nach der Themenvorstellung zur Verwahrung abzugeben. Die den Swing drehen und wenden, ihn ausbremsen oder begradigen oder forcieren, um den Atem des Quartetts mit dem seines Publikums zu synchronisieren. Wenn schließlich dieser unvergessliche Ton wieder ins Zentrum rückt und Lee Konitz alle Ohren auf sein persönliches Zeit- und Raummaß einpegelt, dann ist ohnehin alles gut.
„Live at the Village Vanguard“ vom Lee Konitz Quartett ist erschienen bei Enja/edel kultur.
Dieser Artikel wurde veröffentlicht in der ZEIT Nr. 15/2010.