Terre Thaemlitz ist Musiker und Transgender-Aktivist. Sein wunderbares Deep-House-Album „Routes Not Roots“ vermittelt genug Diskurs für ein Hauptseminar.
„I’m more of a man than you’ll ever be and more of a woman than you’ll ever get.“ Diesen schönen Satz pflegte der New Yorker Disco-DJ David Rodriguez in den siebziger Jahren seinen Neidern zuzurufen. Ein zickiges Motto, das Terre Thaemlitz sicherlich gefällt. Gender, Queer-Theorie, Rassismus und sexuelle Identität – um diese Themen dreht sich der in Minnesota geborene Musikers und Transgender-Aktivisten schon länger. Die Musik seines K S.H.E.-Projektes (kurz für: Kami-Sokunobe House Explosion) macht da keine Ausnahme, sondern hebt Thaemlitz‘ theoretischen Anspruch auf eine neue Ebene.
Routes not Roots ist nicht nur ein brilliantes Deep-House-Album. Wie schon Thaemlitz‘ vorangegangene Veröffentlichungen sind auch die Stücke dieser Platte wie theoretische Querverweise zu hören. Thaemlitz versteht den Club und seine Tanzfläche als utopischen Ausgangspunkt: Der Club als Experimentierfeld für Verwandlungen und Rollenspiele, in denen die hierarchischen Geschlechtermodelle hinterfragt werden. Die großen gemeinsamen Nenner heißen Disco und House – zwei Musikrichtungen, die die hedonistische Auflösung von Geschlechtermodellen feiern.
Seit 2003 lebt Thaemlitz in Japan, wo er unter dem Namen DJ Sprinkles die Partyreihe Deeperama veranstaltet. Aus dieser Zeit stammen die hier versammelten Stücke, sie alle sind bereits in kaum erhältlichen Kleinstauflagen erschienen. Das französische Label Skylax hat diese Stücke nun erstmals auf einer CD zusammengefasst und damit eines der spannendsten Alben elektronischer Musik des laufenden Jahres herausgebracht.
Der fließende Deep House von Routes Not Roots erinnert an das große Erbe New Yorks, aber die Klavierakkorde klingen brüchig und dissonant. Eine tiefe Traurigkeit durchzieht alle Lieder, nur vereinzelt durchwirkt mit dunklem Humor. Im Mittelpunkt stehen Stücke wie das 13 Minuten lange Hobo Train mit seinem genialen Sprachsample (Sisters, I Don’t Know What This World Is Coming To) oder das mitreißende Downtown, ein House-Epos aus Rasseln, Jazz-Bässen und lateinamerikanischen Trommeln. Hier sorgt der Sampleschrei „You my bitch / We are bitches!“ für kritische Erdung.
Immer wieder wird Thaemlitz‘ selbst ernannter „Fagjazz“ von kleinen Hörspielen und O-Tönen unterbrochen. Da erzählt ein japanischer Crossdresser mit sanfter Stimme zur Harfenmusik von seinen Erfahrungen und Wünschen. Besonders verstörend wirkt das, indem Thaemlitz die Erzählung einer gewalttätigen Auseinandersetzung unter Transgendern mit lautstarkem Gelächter unterlegt. Die schockierende (und groteske) Schilderung wird zum Stand-up, zur komischen Nummer. So reflektiert Routes Not Roots auch die Probleme innerhalb der eigenen Szene. An anderer Stelle berichtet jemand über gewaltsame Übergriffe und Diskriminierung. Schwuler Sex unter Heteros, gewalttätige Kindheitsfantasien – Routes Not Roots enthält soviel Diskurs wie ein Hauptseminar.
Thaemlitz hat alle Samples und Klangquellen im Booklet transkribiert, teilweise auch kommentiert. Sie sind nachzulesen wie ein Manuskript. Einfach nur als House-Album lässt sich diese Platte nicht konsumieren, dafür sind ihre Subtexte und eingeschriebenen Bedeutungen zu stark. Routes Not Roots ist eine Platte, die viel Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen einfordert. Wie schreibt Thaemlitz im Booklet? „It’s serious. Don’t ignore it.„
„Routes Not Roots“ von K.-S.H.E. (Kami-Sakunobe House Explosion) ist bei Skylax erschienen.