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Das Mädchen aus der Waldhütte

 

Wunderschöne Lieder über weniger schöne Themen: Mit ihrem düsteren, trostlosen Gesang könnte Zola Jesus ein großer Popstar werden.

© Angel Ceballos

Es war einmal ein Mädchen, das hieß Nika Roza Danilova. Das Mädchen wuchs auf in einem dunklen Wald im hohen Norden. So dunkel war der Wald und so tief, dass es kein Internet gab, noch nicht einmal einen Telefonanschluss, nur ein altes Klavier im Wohnzimmer der kargen Hütte. Draußen vor der Hütte hing Fleisch zum Trocknen, denn der Vater des Mädchens war ein Jäger. Wenn der Vater unterwegs war im tiefen Wald, um die Hirsche und Rehe zu töten, deren Fleisch das Mädchen zu essen bekam, vertrieb es sich die Zeit mit Singen. Am liebsten sang das Mädchen Opernarien, obwohl es nie in einem Opernhaus gewesen war.

So wuchs das Mädchen heran und wurde 22 Jahre alt. Heute nennt sich das Mädchen Zola Jesus, bringt sein drittes Album Conatus heraus und wird gefeiert als heißester Jungstar zwischen hier und dem kalten Wald in Wisconsin, aus dem es kam. Mit tiefer, sagenhaft voluminöser Stimme singt das Mädchen Lieder von Verlangen und Verlust, Verzweiflung und Verzagtheit. Lieder, die Avalanche heißen und einen mit ihren schwerfälligen elektronischen Beats und düsteren Keyboardflächen zudecken wie eine langsam anrollende Lawine, sanft und zugleich gewaltig, nur scheinbar leicht und luftig, aber vor allem sehr bedrohlich.

Nachdem das Mädchen aus dem heimischen Wald weggelaufen war, blieb es trotzdem am liebsten allein mit sich. An der Universität hatte es sich für das Fach Philosophie eingeschrieben. Dort las es am liebsten Bücher von Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer. Von diesen weisen Männern lernte es, dass die neue, moderne Welt, die jenseits seines tiefen Waldes lag, noch viel dunkler und düsterer war. Die Lieder, die es daraufhin schrieb und ganz allein in seinem Studentenwohnheimzimmer mithilfe billiger Musik-Software und altmodischer Synthesizer aufnahm, klangen immer noch ein wenig nach den Opernarien, die es früher allein in der Hütte gesungen hatte, vor allem aber klangen sie sehr trist und trostlos und wunderschön und ganz so, als kämen sie direkt aus den tiefsten Abgründen einer wunden Seele. Eines dieser Lieder hieß Night und wurde ein kleiner Hit bei den Menschen, die sich ihre einsamen Tage sonst von Bands wie The xx oder Florence & The Machine untermalen hatten lassen.

Zola Jesus: „Night“

Für Conatus hat das Mädchen nun noch mehr wunderschöne Lieder über weniger schöne Themen geschrieben. Das Lied Hikikomori handelt von Menschen in Japan, die sich in ihrer eigenen Wohnung einschließen und alle sozialen Kontakte abbrechen. Andere neue Lieder erzählen ganz genau davon, wie es ist, von innen heraus zu zittern, oder wie es sich anfühlt, wenn man nicht gehen kann, obwohl man nicht mehr weiß, warum man bleiben sollte.

Weil aber das Mädchen seine Computer für Conatus ein wenig anders programmiert hat, wirken die Tristesse und die Trostlosigkeit lange nicht mehr so trist und trostlos wie in seinen älteren Liedern. Skin darf mit einem hellen Klavierakkord beginnen, zu Seekir könnte man sogar tanzen, und Swords klingt wie das fahle, aber freundliche Licht am Ende der Morgendämmerung. Mit Streichern wird die Depression in eine berückende Melancholie verwandelt.

Und weil Nika Roza Danilova nicht gestorben ist, wird Zola Jesus wohl bald ein großer Popstar werden.

„Conatus“ von Zola Jesus ist erschienen bei Souterrain Transmissions/Rough Trade.

Aus der ZEIT Nr. 38/2011