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Der große Bums aus Chicago

 

25 Jahre Trax und Factory Records: Zwei neue Sampler erinnern an die heißen Achtziger, als von Chicago aus der House die Welt eroberte.

Shark Vegas im Konzert ( © Factory)

Wer ein Haus bauen will, braucht viele Helfer. Vermesser, Architekten, Handwerker – sie alle sorgen dafür, dass es irgendwann steht. Was aber, wenn ein Haus nur einen Baumeister hat? Ein gewisser Jack hatte es da einfacher. Er rief laut Let There Be House und schon war da House. So behauptet es zumindest Mr. Fingers in seinem Klassiker Can You Feel It. Aber auch House hatte seine Vermesser, Architekten und Gewerke. Und wie bei einem richtigen Hausbau, steht am Anfang das Fundament.

Frankie Knuckles, ein DJ aus New York, hatte es in den späten siebziger Jahren nach Chicago verschlagen. In New York hatte Knuckles gemeinsam mit einem gewissen Larry Levan aufgelegt. Jetzt wollte er es allein probieren.
Im neuen Club The Warehouse spielte Knuckles neben Soul, Funk und R’n’B auch eigene Versionen von Disco-Klassikern, die er mit rohen Beats aus einer Drummachine für den Tanzboden aufpeppte. Auch auch europäische elektronische Musik wie New Wave und frühen Synthiepop legte er auf. Die Musik wurde von den Tänzern einfach nur House genannt: der Sound, der im Warehouse zu hören war. Das Fundament war gelegt, das Mauerwerk besorgte jemand anderes.

Im Club Muzic Box experimentierte Ron Hardy mit harter EBM, Italo Disco, europäischem New Wave und sogar Rockmusik. Hardy war der lauteste und radikalste DJ in Chicago – sein Soundsystem war immer bis zum Anschlag aufgedreht, er mixte wild und unberechenbar. Viele Musiker und DJs ließen sich in der Muzik Box inspirieren und begannen zuhause, mit billigem Equipment eigene Stücke zu basteln. Die Kassetten und Acetate mit den harten 4/4-Rhythmen und den spartanischen Basslinien fanden den Weg zu Hardy, der sie oft ungehört spielte. So entstanden erste Underground-Hits wie Acid Tracks von DJ Pierre oder Adonis‘ No Way Back, die bald ein ganzes Genre prägten. Die Stücke waren roh und ungeschliffen – die Klänge aus Illinois elektrisierten bald auch die Clubs von New York und Detroit.

Und sie fanden dank einer kleinen Plattenfirma den Weg nach Europa: Larry Sherman und Rachel Cain hatten Trax Records im Jahr 1983 gegründet. Infiziert von der Energie der Chicagoer Szene, pressten sie die ersten House-Stücke auf Vinyl. In den Clubs von Chicago sorgten die Platten für Hysterie – dabei klangen sie häufig katastrophal. Kein Wunder, ließ das Label die Stücke doch häufig auf bereits verwendetes Vinyl pressen. Aber gerade diese Unvollkommenheit machte den Charme und den Mythos des Labels aus.

Eine neue Kompilation zum 25-jährigen Jubiläum des Labels unter der Leitung von Jorge Cruz bemüht sich nun, diesen Charme wieder aufleben zu lassen. Wirklich erfreuen wird diese schmale Abfahrt aus elf Songs aber lediglich die Fans und Kenner. Viel (zu recht) Unbekanntes ist zu hören, die ganz großen Hits fehlen – zum Jubiläum wirkt das eher wie Butterkuchen statt Torte. Wer dem großen Bums aus Chicago wirklich nachspüren will, sollte zur Jubelausgabe zum 20. Geburtstag greifen. In diesem Dreierpack aus dem Jahr 2004 gelang, was hier seltsam unausgegoren wirkt.

Wie man das Erbe stilecht und historisch wirkungsvoll aufbereitet, beweist hingegen die fulminante Retrospektive FAC.DANCE, auf der die Wechselwirkung zwischen Chicago und Manchester hörbar wird. England, 1986: Mit der Trax-Platte Move Your Body von Marshall Jefferson schlägt House auch hier vollends ein. In Manchester hatte der DJ Mike Pickering den Club The Haçienda (der überwiegend durch die Plattenverkäufe der Band New Order finanziert wurde) mit seiner erfolgreichen House-Music-Reihe Nude vor der Schließung bewahrt. Nun tanzte ganz Manchester zu den Platten aus Chicago. Der Sound aus Übersee beeinflusste auch das hauseigene Factory-Label.

Anders als bei Trax Records war die Qualität der Factory-Platten von Beginn an hoch: Ein exzellentes Design und das spezielle Katalogsystem waren ebenso entscheidend wie die Auswahl der Bands, die hier veröffentlichten. Die Musik von A Certain Ration, dem New Yorker Trio ESG, Durutti Column, Joy Division und später New Order waren stilbildend für den Post-Punk der frühen Achtziger.

A Certain Ratio in New York (© Factory)

New Orders Besuch in New York im Jahr 1980 setzte neue Energien frei. Überwältigt von der Musik in den Clubs wie der Dancetaria, der Peppermint Lounge oder der Paradise Garage zog Factory Records in Richtung Tanzboden. Zurück in England wandten sich New Order elektronischen Dance-Klängen zu und infizierten andere Bands mit dem Fieber. Unter der Regie von Labelchef Tony Wilson entwickelte sich Factory Records so zu einer der innovativsten Plattenfirmen für moderne Tanzmusik. Factory-Bands spielten in New Yorks coolsten Clubs, die berühmtesten DJs aus Chicago wurden bei ihren Gastspielen in der Haçienda gefeiert.

FAC.DANCE macht diese ungeheuer dynamische Wechselwirkung deutlich. Selbstverständlich sind auch New Order mit dabei. Aber egal, ob es sich um die melancholische Schönheit von Durutti Column, den packenden Jazz Funk der Swamp Children oder den mutierten Post-Disco von Quando Quango, Shark Vegas, A Certain Ratio und Section 25 handelt – selten klang Tanzmusik so offen und experimentierfreudig wie von 1980 bis 1987. Für einige Jahre schien der Atlantik mit nur ein paar Beats überwindbar zu sein. Dann folgte Madchester, dieser pillenbunte Kindergeburtstag unter Schaumkanonen. Das war dann wieder eine sehr europäische Angelegenheit.

„TRAX Records: The 25th Anniversary Album“ ist bei Trax Records erschienen.
„FAC.DANCE – Factory Records: 12″ Mixes & Rarities 1980-1987“ ist bei Strut Records erschienen.