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Aus der Ursprungsenergie des Jazz

 

Wayne Shorter kehrt nach 40 Jahren zurück zu Blue Note. Auf dem neuen Album zeigt sein Quartett, wie man sich frei und harmonisch zugleich durch die Welt des aktuellen Jazz bewegt.

© Robert Ashcroft
© Robert Ashcroft

Endlich ist er zurück, der verlorene Sohn, zurück nach 40 Jahren. Aus der Sicht von Blue Note, dem legendären Label, mit dem die beiden deutsch-jüdischen Migranten Francis Wolff und Alfred Lion dem modernen Jazz eine äußere Gestalt gaben, ist die Neuverpflichtung von Wayne Shorter, der zwischen 1964 und 1970 elf Alben auf dem Label veröffentlichte, eine ganz große Geschichte.

Mit der Veröffentlichung von Without a Net in seiner neuen alten Heimat zeigt sich Shorter gleich von zwei Seiten. Acht Mitschnitte von der Europatournee seines Quartetts und eine weitere Live-Aufnahme, in der das klassische Bläserquintett Imani Wind dem rohen Klang eine Lage Samtgewebe gegenüberstellt, verdeutlichen, warum Shorters Quartett als eine der außergewöhnlichsten Gruppen des aktuellen Jazz gilt.

Da sind Wucht und Dringlichkeit zu spüren, die federnde Dynamik, mit der sich das Quartett im Zeitkontinuum bewegt, die Farben von Brian Blades Schlagzeugspiel, die Fantasie der Basslinien von John Patitucci, die so verspielte wie brachiale Eleganz des Pianisten Danilo Perez‘ und alles zusammen in einem fluiden Aushandlungsprozess, der immer wieder überraschende Richtungen einschlägt. Freier und zugleich harmonischer bewegt sich niemand durch die Landschaften des aktuellen Jazz.

Doch vollkommen macht diesen beweglichen Gruppenklang erst der einzigartige Ton von Wayne Shorter selbst. Auf Tenor- und Sopransaxofon setzt er seine Marken: ohne Vibrato, ohne Schnörkel, manchmal warm und anschmiegsam und dann wieder schneidend bis an die Schmerzgrenze.

Shorter geht vorsichtig, sehr vorsichtig mit seinen Tönen um, während er seiner Band den langen Zügel lässt, spielt er selbst (zum Missfallen mancher Zuhörer) auch einmal längere Zeit gar nichts. Ein Asket des Klangs. Er verzichtet auf alles Überflüssige, meidet Floskeln und planierte Wege und setzt bei seinem Publikum ein vergleichbares Maß an Konzentration voraus. Doch Shorter ist gut gelaunt: Immer wieder schwelgt er auf Without a Net, seiner Rückkehr als verlorener Sohn, in Erinnerungen. Orbits, ein Stück, das er 1966 für das Miles Davis Quintet schrieb, fungiert als Ouvertüre, wenig später tänzelt er durch ein Zitat von Manteca, Dizzy Gillespies Klassiker des Afrocuban Bop.

Im spannungsgeladenen Zusammenspiel seiner Band haben diese Rückgriffe auf die Vergangenheit nicht das Geringste mit Nostalgie zu tun. Die vertrauten Motive sind nur weitere Türen, durch die die Musik in neue Räume gelangt, bevor sie sich in einer langsamen Spannungssteigerung dem Dreh- und Angelpunkt des Albums nähert: Pegasus, die ausgedehnte Komposition mit dem Bläserensemble, die im Spagat zwischen der Disziplin der notierten Teile und der brodelnden Improvisation einen Bogen schlägt zu den Ursprungsenergien des Jazz.

Wie damals schon in New Orleans geht es um die Spannung zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen freier Interpretation und gemeinsamer Präzision, um die Aufhebung eines dialektischen Gegensatzes auf einer höheren Ebene. So gesehen hebt die Musik des Wayne Shorter Quartet ab. Ohne Netz.

„Without a Net“ von The Wayne Shorter Quartet featuring Danilo Perez, John Patitucci and Brian Blade ist erschienen bei Blue Note.