Die Erotik der Unschärfe: Das Soulpopduo Rhye bleibt im Dunkeln und bringt ein körperwarmes Debütalbum heraus. Es werden sich viele Liebhaber finden.
Kastratensänger waren die Popstars ihrer Zeit, Vaslav Nijinsky revolutionierte als effeminierter Ballerino den Tanz des 20. Jahrhunderts, David Bowie, Grace Jones, Bill Kaulitz – der Reiz ihrer Kunst liegt nicht zuletzt in der geschlechtlichen Uneindeutigkeit.
Vor ein paar Monaten war da diese Stimme, weich und windig wie die von Sade, The XX oder Everything But The Girl. Ganz nah kam sie aus dem Kopfhörer ans Ohr, ein Flüstern und Raunen über zwei wunderbar warmen Popsongs. Wer sang da? Mann oder Frau? Hinter den Videos zu Open und The Fall, die 2012 in einigen Blogs die Runde machten, stand ein Projekt namens Rhye, mehr erfuhr man nicht.
Das Raunen war Programm: Bis zur unangekündigten Album-Veröffentlichung am 1. März war so wenig über die Musiker zu erfahren, dass die Fantasie der angeregten Hörer von ganz allein Kapriolen schlug. Das erste Berlinkonzert war, nur über Mund- und Netzpropaganda, innerhalb weniger Tage ausverkauft.
Jetzt ist zumindest bekannt, dass es sich bei Rhye um ein Duo zweier Produzenten handelt. Der Däne Robin Hannibal und der Kanadier Mike Milosh trafen sich in den kreativen Metropolen dieser Welt und nahmen innerhalb eines Monats das Album Woman auf. Die sirenenhafte Stimme der Verführung gehört übrigens nicht etwa einer Studiosängerin, sondern Milosh selbst.
Die zehn Songs auf Woman sind intime Arrangements aus Pop, Soul und zarten Funkfragmenten, Geschmeide in Liedform. Dem menschlichsten aller Instrumente darin die Hauptrolle zu geben, ist so effektvoll wie stilbewusst. Als erfahrener Cellist schleift Mike Milosh seine Stimme zum Scheitelpunkt der Melodie hinauf und lässt sie wieder ins Ungewisse fallen, wie Donna Summer es perfektionierte. Seufzer der Schönheit.
Robin Hannibal erzeugt derweil klangliche Dichte, konstruiert aus Anleihen von Burt Bacharach, Air oder eben Sade ein Bett, mit Satin bezogen – stets körperwarm, bisweilen leicht schwül, aber nie explosiv. Flöten, Streicher, mal ein Saxofon, mal eine Harfe empfangen die Stimme in weichen Kissen. Das Titelstück lädt Johann Sebastian Bach zum Präludium ein. Oder sollte man Vorspiel sagen?
Diese Sinnlichkeit findet im Video zu Open und dem Artwork zum Album ihre bildliche Entsprechung: Milosh und Hannibal wissen genau um den feinen Unterschied zwischen entblößten Körpern und nackter Haut. Die beiden Musiker hingegen halten sich bedeckt. Keine Fotos! Sie vertrauen auf ihre Ästhetik der Unschärfe, die ist musikalisch und konzeptionell aufregend genug und könnte in diesem Jahr ein großes Publikum finden.
„Woman“ von Rhye ist erschienen bei Polydor/Universal Music.