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In der Geisterstadt brennt wieder Licht

 

Dub-Techno mit menschelnden Momenten: Andy Stott geht dort auf die Hörer zu, wo andere Produzenten gar kein Publikum mehr vermuten würden. Erstaunlich!

© Modern Love
© Modern Love

Das Techno-Jahr 2014 begann in einer Geisterstadt. Auf seinem vierten Album Ghettoville entwarf der britische Produzent Actress Tanzmusik für menschenleere Clubs. Seine Tracks ließen Dubstep, Deep House und R ’n‘ B als Ausgangspunkte in weiter Ferne erkennen, meistens kreisten sie aber gedankenverloren um sich selbst.

Alles war immerzu einsturzgefährdet, am Ende blieb eine Sammlung leerstehender Geräuschruinen zurück. An dieser Stelle beschrieben wir Actress als „letzten Menschen auf den Straßen von London“.

Das Techno-Jahr 2014 endet mit der Rückkehr des Menschen in die Geisterstadt. Andy Stott ist ein Produzent aus Manchester, und auch er ist inzwischen beim vierten Album angekommen. Faith In Strangers teilt sich wichtige Merkmale mit Actress’ Ghettoville: gemächliches Tempo, geduldige Dramaturgie, Freude an Abstraktion und Soundverformung. Selbst die unergründliche Tiefe der Bässe scheint ihren Ursprung bei beiden Musikern in denselben sumpfigen Gefilden zu haben.

Die Alben klingen also ähnlich, fühlen sich jedoch ganz unterschiedlich an. Actress‘ stimmlosen Abgesängen stellt Stott eine Aufbruchstimmung entgegen, die seinen früheren Platten fremd war. Faith In Strangers bewegt sich, langsam aber sicher. Schon die Soundwellen des sechsminütigen Ambient-Auftakts Time Away vermitteln in ihrer vorgeschobenen Ereignislosigkeit eine sonderbare Form von Geborgenheit. Man weiß nicht, was gerade passiert mit der Musik von Andy Stott, aber man möchte sich da gern reinlegen.

In der Folge erweist sich die entgegenkommende Art von Faith In Strangers ebenso oft als einladend wie bedrohlich. Stott kann noch immer Beats mit unfassbar scharfen Kanten programmieren. Er weiß, wo er drücken muss, damit die Synthesizer wehtun. Dem gegenüber steht jedoch ein größeres Aufgebot an Field Recordings, herkömmlichen Instrumenten und gefundenen Geräuschen als je zuvor. Sie alle machen aus Faith In Strangers ein geradezu lichtdurchflutetes Album – solange man im Kopf behält, dass es bei Stott immer nur um kaltes, künstliches Licht gehen kann.

Für die wirklich menschelnden Momente der Platte ist jemand anderes zuständig. Zum zweiten Mal auf einem Album des Produzenten kann man Gesang erkennen: Alison Skidmore, die Andy Stott einst das Klavierspielen beibrachte. Stott geht nicht eben zimperlich mit ihr um, er zerstückelt ihre Stimme und belegt sie mit Halleffekten, bis kaum mehr davon übrig bleibt als ein paar unverständliche Lautfolgen. Der Effekt ist umso erstaunlicher: eine romantische, an einigen Stellen sentimentale Version von Dub-Techno.

In einem Jahr, in dem sich Bassmusik oft in Dunkelheit verbarg und das Ende ihres großstädtischen Lebensraums heraufbeschwor, setzt Andy Stott damit einen willkommenen Kontrapunkt. Ohne die Einzigartigkeit seines Sounds zu gefährden, öffnet er ihn für neue Herangehensweisen, Kollaborateure und Gefühlsregungen. Damit beginnt Faith In Strangers die Wiederbesiedelung der Geisterstadt. Geht es nach den Trap-Rap-Anflügen seines Tracks Violence, wird dort als Erstes ein neuer Stripclub eröffnet.

„Faith In Strangers“ von Andy Stott ist erschienen bei Modern Love/Rough Trade.