Keith Jarrett hat in den Siebzigern das improvisierte Solokonzert als Genre etabliert. Sein neues Album „Rio“ verströmt eine sonnige, gelassene Energie.
Gäbe es eine Schatzkiste, in der der Jazzpianist Keith Jarrett all das aufbewahrt, was ihm musikalisch etwas bedeutet, dann fände sich darin die ganze Geschichte seines Instruments von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier bis zu Cecil Taylors Klavierschlagzeug mit 88 Trommeln.
Jarrett kennt sich im barocken Kontrapunkt aus und in der abstrakten Atonalität, er schätzt die lyrische Miniatur ebenso wie die explosive Geste, das strenge Exerzitium wie die große Freiheit. Und immer, wenn er am Flügel sitzt, macht er – neben allen Unternehmungen mit Quartetten, Trios, Duos in Sachen Jazz und den Bach-, Händel-, Mozart- oder Schostakowitsch-Einspielungen – das Spiel aus der persönlichen Schatzkiste zu seiner künstlerischen Methode. Er hebt den Deckel und lässt die Geister fliegen.
Nach seinem Solo-Debüt Facing You im November 1971, bei dem er noch reguläre, vorkonzipierte Stücke um- und ausspielte, hat Jarrett mit den Konzertabenden in Lausanne und Bremen von 1973 das Solokonzert als Genre etabliert – eine musikalische écriture automatique, von vorn bis hinten improvisiert, frei von vordefinierten Themen. Sein Spiel wurde zu einer Meditationsübung, in der er den filternden Einfluss des Bewusstseins ausschaltet und sich einer Musik der Erinnerungen, Assoziationen, überraschenden Bezüge und herangewehten Einfälle überlässt.
In der Offenheit und der Fragilität der musikalischen Prozesse ist Jarrett dabei auf ein aufmerksames Publikum angewiesen. Mit konzentriertem Hören trägt es wie ein Katalysator zum Gelingen eines Konzerts bei. Und Jarrett nimmt sich die Freiheit, störende Zuhörer auf offener Bühne zurechtzuweisen. Das mag nicht jeder; sobald die Lichter ausgehen, verspürt selbst der aufnahmebereiteste Zuhörer einen Hustenreiz.
Jarretts neues Album Rio ist der Mitschnitt eines Konzerts in Brasilien vom 9. April dieses Jahres. Es tritt als fünfzehntes in der Reihe aller veröffentlichten Konzertmitschnitte ein kompliziertes Erbe an. Das Feld scheint bestellt, von den fast endlos weit geschwungenen Spannungsbögen der ersten Jahre über die zurechtgestutzten Skizzen von Radiance, mit der Jarrett im Jahr 2005 nach der Genesung vom chronischen Erschöpfungssyndrom den Faden der Solokonzerte wieder aufnahm, bis zu den endgültig klingenden Wellenbewegungen des Triple-Albums Testament (2009) hatte man gedacht, alle Varianten des Formats seien durchgespielt, alles Weitere sei nur noch Variation.
Und tatsächlich erkennt man die aufziehenden Geister: zerbröselnde Akkorde und die kontrapunktisch geführten Linien der beiden Hände, die sich zu einem unentwirrbaren Gestrüpp verwickeln, garstige Blockakkorde und weit gespannte Arpeggios, die anschwellen wie ein Kokon, aus dem schließlich eine zerbrechliche Melodielinie schlüpft. Dazu das Stampfen des Backbeat und die fragilen blue notes; die rhythmischen Ostinati und die flirrend swingenden Phrasierungen.
Immer wieder sucht die Musik vertraute Orte auf. Immer wieder vernimmt das Ohr erprobte Schlüsselreize, doch bevor das Klingende allzu vertraut wird, löst sich das Klangbild auf – und die Musik zieht weiter. Man ist bei Jarrett jedes Mal wieder verblüfft darüber, wie flüssig sich in seinem Spiel die einzelnen Teile zusammenfügen, wie die tektonischen Platten der Musik schwelgerisch im Raum schweben, bis sie sich gegeneinander verschieben und Reibungshitze erzeugen. Jarrett macht sich mit fantasievoller Beweglichkeit, Wut und Furor gleichermaßen über die Musik her.
Man kennt das alles, und doch scheint jedes Mal vieles anders: Rio verströmt eine fast schon sonnige, gelassene Energie, die deutlich macht, dass jedes Konzert seine eigene Magie hat. Eine Magie, die jedes Mal wieder mehr ist, als sich die Geister aus der Schatzkiste träumen ließen.
„Rio“ von Keith Jarrett ist erschienen bei ECM/Universal.
Aus der ZEIT Nr. 47/2011