Die Materialschlacht hat begonnen: „Lioness. Hidden Treasures“, das erste posthume Album von Amy Winehouse, ist anhörbar. Aber weitgehend überflüssig.
Die Trauerzeit ist vorüber, die Leichenfledderei hat begonnen. Ein halbes Jahr genügt der Musikindustrie offenbar, um über den Verlust eines ihrer größten Stars hinwegzukommen. Die Verwertung des Nachlasses von Amy Winehouse beginnt mit der Zusammenstellung Lioness, die den Untertitel Hidden Treasures trägt. Das, muss allerdings resümiert werden, weitgehend unverdient.
Denn allzu viele bislang versteckte Schätze, das vor allem ist die Erkenntnis, die Lioness bereithält, scheint Winehouse nicht hinterlassen zu haben. Das hier enthüllte Vermächtnis besteht vornehmlich aus Coverversionen wie dem bereits vorab als Single erschienenen Duett mit Tony Bennett – eine Neuinterpretation des alten Jazz-Standards Body & Soul – und nur zu einem sehr überschaubaren Teil aus bisher unbekannten Kompositionen. Eine davon ist das reichlich müde Between The Cheats, das für ein mögliches drittes Album von Winehouse vorgesehen war. Spannender klingt immerhin Like Smoke, auf dem Winehouse‘ erklärter Lieblingsrapper Nas seinen Gastauftritt dazu nutzt, seine virtuelle Duettpartnerin posthum zu würdigen.
Außerdem ist nun zu hören, warum ein Stück wie Halftime nicht in die endgültigen Fassungen der beiden regulären Alben Frank und Back To Black aufgenommen wurde. Dann doch lieber noch mehr Interpretationen bekannter Songs, jeweils im beliebten Retro-Soul-Sound: Zwar man kann darüber streiten, ob die Welt unbedingt noch eine weitere Version von The Girl From Ipanema oder Will You Still Love Me Tomorrow benötigt. Aber schaden kann’s auch nicht. Ähnliches gilt für ältere Einspielungen von Hits aus der kurzen, aber heftigen Karriere der Amy Winehouse. Der archäologische Wert der hier erstmals veröffentlichten Aufnahmen von Tears Dry oder Valerie allerdings ist begrenzt, sie unterscheiden sich kaum von den bereits bekannten Versionen.
So wird es erst wirklich morbide, wenn Winehouse Leon Russells Klassiker Song For You interpretiert. „And when my life is over„, singt nun die Stimme aus dem Jenseits, „remember when we were together, we were alone and I was singing this song for you“. Bei den Aufnahmen, so erzählt es der Produzent Salaam Remi, soll Winehouse mitten im Vortrag in Tränen ausgebrochen sein.
Solche Legendenbildung hat Lioness auch nötig. Leidet das Album doch offensichtlich darunter, dass die Sängerin vor ihrem Tod noch verfügte, dass mindestens ein Dutzend bereits aufgenommener Lieder niemals erscheinen darf. Die wahren Hidden Treasures bleiben also weiter verborgen, während diese erste Nachlassverwaltung zwar durchaus anhörbar, aber doch weitgehend überflüssig ist.
Vor allem aber ist dieses Album, insbesondere wenn es sich den Erwartungen gemäß verkauft, wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was uns noch bevorsteht. Tausende Stunden von Gesangsaufnahmen, so kolportieren es die Rechteinhaber, soll es von Winehouse geben. Reichlich Material also, die Leichenfledderei zu solchen Höhen zu führen, dass einem das Nachleben von Jimi Hendrix, Tupac Shakur oder Michael Jackson wie ein abgeschiedener Altherrenabend vorkommen wird.
„Lioness: Hidden Treasures“ von Amy Winehouse ist erschienen bei Island/Universal.