Die Geschichte digitaler Musik in einem Album: Wer Chris Clarks „Iradelphic“ zuhört, begreift die Entwicklung vom frühen Videospielsound zu heutigen Tanzhallenkrachern.
Durch diese hohle Gasse muss man kommen, diese Hürde ist zu nehmen: Eine klassische Gitarre, irgendwo zwischen indisch und südamerikanisch angeschlagen, jedenfalls sehr sphärisch, flächig, fast esoterisch, und das gleich zu Beginn. Wer also Henderson Wrench übersteht, das Eröffnungsstück auf Iradelphic, und dran bleibt, an Chris Clarks neuem Album, den erwartet wunderbare elektronische Musik.
Man muss sich zwar auch durch die folgenden elf Stücke eher hindurchdenken, als sie bloß wirken zu lassen. Doch mit jedem davon entfaltet das sechste Album des englischen Soundtüftlers etwas sehr Besonderes: ein kakofonische Harmonie.
Kein Wunder. Chris Clark veröffentlicht das, was gern Intelligent Dance Music (kurz: IDM), genannt wird, seit elf Jahren bei Warp, den Spezialisten exaltierter Elektronik. Hier lässt man ihm, der sich seit einiger Zeit nur noch beim Nachnamen nennt, freien Lauf. Hier kann er experimentieren. Hier verzeiht man ihm sogar ausbleibenden Star-Appeal. Warp geht es um die Substanz.
Bei Iradelphic heißt das: die Entwicklung digitaler Musik von früher Bastelarbeit mit wenigen Bits über melodiösen Synthiepop bis hin zu tanzbarem Ambient und Techhouse der Gegenwart nicht nur auf einem Album durchzuspielen, sondern bisweilen in jedem einzelnen Track. Von vorn nach hinten und zurück, übereinander, durcheinander. Es sind Soundkaskaden, die oft zu verschachtelt klingen, um Harmonie zu entfalten, gerade dadurch aber eine ungeheure Rhythmik entwickeln.
Com Touch etwa, gleich nach dem Auftakt. Ein verwirrender, fast verstörender Titel, der artifizielle Achtziger-Keyboards mit einem technoiden Neunziger-Beat erst in einem unhörbaren Klanggewitter aufgehen lässt, bis die seltsam barocke Eingangsmelodie wieder für Ordnung sorgt, was im Anschluss-Track Tooth Moves wiederum seine Fortsetzung findet. Sounds geraten so zu Wetterereignissen, die einander bedingen, aufeinander folgen, ineinander übergehen und für den Betrachter doch erstmal singuläre Phänomene bleiben: Wolken, Sonne, Regen, Sturm.
So funktioniert die ganze Platte, und sie funktioniert blendend: Durch The Pining wehen steeldrumartige Samples und durch Black Stone Clarks handgespieltes Piano, durch Open scheinen gegenwärtige Vocals und durch Secret eher solche der Sixties, durch Ghosted schneit eine psychedelische Gitarre, durch Skyward Bruise/Descent hageln Töne wie aus alten Science-Fiction-Filmen, überall stürmt etwas hinein wie ein Schauer bei Sonnenschein. Genau das kennzeichnet Bastler wie Clark: Sie missachten konventionelle Passformen.
Dafür hat er an seinem Wohnort Berlin viel Kreativität getankt und auf seinen Reisen um die Welt noch mehr Einflüsse. Denn produziert wurde Iradelphic in Deutschland, Australien, Belgien, England, Norwegen. Und das hört man dem Album an, diese Rastlosigkeit, der immerzu Momente des Innehaltens folgen, weil Bewegung Pausen erfordert. Gut, dass Clark nicht lang stillsitzen kann.
„Iradelphic“ von Clark ist erschienen bei Warp Records.