Charles Mingus musste erst sein Instrument wechseln, um vom Straßenjungen zum Frauenhelden, Traditionalisten und Neutöner aufzusteigen. Jetzt ist er quicklebendig in einer neuen CD-Box zu hören.
Nachts in L.A., in den dreißiger Jahren: Was macht dieser farbige Lümmel da in der 103. Straße? Er lehnt an der Laterne und liest! Hey, das ist Charles Mingus – als er noch ein Niemand war. In seiner Autobiografie Chazz biegt jetzt eine Gang um die Ecke: Es ist Buddy Collette mit seinen Leuten.
„Bist du der Junge, der Cello spielt?“ Alle grinsen, obwohl keiner einen Witz gemacht hat. „Was würdest du davon halten, Kohle zu machen und die heißesten Klamotten zu tragen? Sieh dich doch mal an. Du bist angezogen wie ein Penner.“
„Ich mach mir nichts mehr aus Klamotten.“
„Was würdest du davon halten, die schärfsten Weiber in der ganzen Stadt zu haben?“ Dagegen hat Mingus überhaupt nichts.
„Na gut, dann tritt der Gewerkschaft bei.“ Mingus weiß, was die Gewerkschaft ist: ein privater Club, der von Schuhputzern, Zeitungsboten und Brauseverkäufern Schutzgelder eintreibt.
„Besorg dir einen Bass, und wir nehmen dich in unsere Gewerkschafts-Swingband auf.“
„Einen Bass kaufen?“
„Genau. Du bist schwarz. In der klassischen Musik wirst du es nie zu etwas bringen, egal, wie gut du bist. Also musst du ein Negerinstrument spielen. Ein Cello kannst du nicht schlagen, also musst du lernen, wie man einen Bass zupft, Charlie!“
Und so kam es, dass Charles Mingus der berühmteste Bassist des Jazz wurde und Frauen, Frauen, Frauen, Frauen hatte. Hätte sich seine Initiation vierzig Jahre später zugetragen, wäre er bestimmt ein Rapper geworden; der Jazz hatte zwischenzeitlich ja arg an Sex-Appeal verloren.
Heute interessieren sich junge Hörer wieder mehr für das teils zarte, teils schräg-wilde Genre zwischen Klassik und Pop, auch wenn nicht alles, was sich heute Jazz nennt, früher als solcher durchgegangen wäre. Charles Mingus (1922 bis 1979) hatte hohe Erwartungen an sein Tun und an sein Publikum. Wenn jemand vor der Bühne quasselte oder mit Gläsern klirrte, konnte er handgreiflich werden. Beim Jazz verstand er keinen Spaß, der war ihm mehr E als U.
Die Box Mingus Mingus Mingus Mingus präsentiert den Bassisten nur auf der ersten CD, einer Trioaufnahme aus dem New York des Jahres 1957. Auf den drei weiteren CDs widmen sich Jüngere seinen Werken. Mingus war ein Komponist von Rang, dessen Stücke wie Haitian Fight Song oder Goodbye Pork Pie Hat keine Allerwelts-Standards sind, sondern Aufmerksamkeit verlangen.
Auf der zweiten CD spielt die amerikanische Mingus Dynasty Band, die sein Erbe pflegt, am Bass der Österreicher Hans Glawischnig. Auf der dritten CD spielt die Ulrich Gumpert Workshop Band, am Bass der in Berlin lebende Jan Roder. Auf der vierten CD spielt The Independent Jazzwerkstatt Orchestra, auch aus Berlin, am Bass Johannes Gunkel.
Entstanden sind die Aufnahmen bei Konzerten von 2007 bis 2009 in Berlin und Potsdam. Sie zeigen: In Mingus ist noch Musik drin. Selbst die 14-köpfige Big Band geht sehr flott zur Sache.
Auf die Frage nach dem Warum genau dieser Zusammenstellung gibt Ulli Blobel von der jazzwerkstatt Berlin-Brandenburg eine herrliche Antwort: „Sie zeigt die Liebe des Produzenten zu Mingus.“ Für ihn sei Mingus der Größte, noch vor Thelonious Monk (1917 bis 1982), der seit einigen Jahren wieder viel gespielt werde.
Was, Herr Blobel, zeichnet Mingus denn aus? „Er hat die Tradition bewahrt und etwas Neues geschaffen.“ In der Tat: Mingus löste den Jazz aus starren Formen, noch bevor in den Sechzigern alle Form gesprengt wurde. Er gab seinen Musikern Freiheit, ohne die Geschichte infrage zu stellen. Das polyphone Spiel nimmt den Free Jazz vorweg, ohne New Orleans zu verleugnen. In dieser Balance ist der verhinderte Cellist zum Klassiker gereift.
Die Vierfach-CD „Mingus Mingus Mingus Mingus“ ist erschienen bei jazzwerkstatt 138.
Aus der ZEIT Nr. 26/2014