Harte Zeiten für die Tonwächter des Jazz: „Streaming“ von Muhal Richard Abrams, George Lewis und Roscoe Mitchell ist spontan und zwanglos
Nur Abrams lächelt auf den Fotos im Begleitheftchen, die bei Lewis zu Hause aufgenommen wurden. Lewis und Mitchell schauen ernst, nachdenklich, verwundert. Abrams wuchs mit dem Radio auf, in Mitchells Kindheit war Fernsehen das große Thema, und der heute 54-jährige Lewis experimentierte schon früh mit Computern. Zusammen repräsentieren sie die beiden ersten Generationen der schwarzen Chicagoer Musikerselbstorganisation AACM.
Lewis ist heute neben seiner Tätigkeit als Musiker und Komponist Professor an der Columbia University in New York. Mit einem Zuschuss der Uni nahmen die drei diese CD auf, den Rest bezahlten sie selbst. Es ist improvisierte Musik. Da das Material das Fassungsvermögen des Tonträgers um das Dreifache übertraf, wählten sie fast nur Stücke aus, die ohne jede Absprache entstanden waren.
George Lewis lehrt Musiktheorie und -geschichte. Er könnte viel dazu sagen, wie die freie Improvisation akute gesellschaftliche Probleme spiegelt. Doch bezogen auf seine eigene Musik interessiert ihn das nicht. Die Musik, die er mit dem Pianisten Muhal Richard Abrams und dem Saxofonisten Roscoe Mitchell aufgenommen hat, bewege sich außerhalb der mit Hilfe von Relevanzkriterien vermessenen Zeit, sagt er. Der Albumtitel Streaming drückt nach seinem Verständnis vor allem Zeitlosigkeit aus: Man denke nicht daran, vorwärts- oder zurückzugehen, man empfinde sich vielmehr im Fluss.
Freie Improvisatoren leben seit Jahrzehnten in einer Situation des Übergangs. Das Patriarchentum ist durch den Free Jazz aus dem Jazz entwichen. Viele Traditionalisten sind immer noch sauer, dass die Neuerer 1961 die bewährten Pfade verlassen haben. Lewis, selbst nicht mehr der Jüngste, sagt den verbliebenen Tonwächtern des Jazz harte Zeiten voraus. Ökonomisch möge es ihnen gut gehen, das Publikum goutiere das Alte, bloß spirituell entwickle sich die Musik nicht weiter. Wer aber – wie er und seine Freunde – an den Institutionen und großen Plattenfirmen vorbei auf Netzwerke, Zirkulation, Offenheit und Verschiedenheit vertraue, der habe heute den besten aller möglichen Momente.
Neben den Hauptinstrumenten, bei Lewis sind das Posaune und Laptop, kommen auf Streaming auch die AACM-typischen kleinen Dinge wie Bambusflöte, Taxihupe und Glocke zum Einsatz. Besonders die drei hier versammelten AACM-Künstler haben auf ihrem je eigenen Weg Spuren gelegt und eine besondere Atmosphäre geschaffen, in der gemeinsame Unterstützung und Ermutigung die kreative Arbeit begleiten. Das Wichtigste sei, Situationen zu erforschen und darauf zu reagieren oder darin zu agieren, berichtet Lewis von der Arbeit an dieser Platte. Als Improvisator müsse man sich immer wieder entscheiden, wann der Plan verworfen werde und während des Spielens spontan Vorschläge machen, was stattdessen kommen solle.
„Streaming“ vom Muhal Richard Abrams/George Lewis/Roscoe Mitchell ist als CD erschienen bei Pi Recordings
Hören Sie hier „Scrape“
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