Der 28-jährige Pianist Gwilym Simcock ist der aufwärts rasende Stern des britischen Jazz. Er kennt keine Grenzen zwischen Improvisieren und Komponieren.
Eins. Einer allein mit seinem Instrument, mit seiner Stimme – das ist eine Urform des Musizierens. Frei, getaktet nur vom Beat des eigenen Herzens, gelenkt von den Klängen, die das Leben in ihm abgelegt hat, seien es die Dreiklänge des Populären, die Harmonik der russischen Spätromantik, die blauen Noten der afroamerikanischen Musikgeschichte oder die Geräusche des Experiments – auf Blues Vignette nimmt sich Gwilym Simcock, 28, der aufwärts rasende Stern des britischen Jazz, die Freiheit, fast eine ganze CD lang. Bearbeitungen von Popklassikern und eines Klavierkonzerts von Edvard Grieg, eine Hommage an Joe Zawinul und Jaco Pastorius, freie Improvisationen, die aus dem Nichts ihre stringente Form entwickeln und dabei hier in Richtung spätromantischer Finesse oder dort zum Stridepiano austreiben – nichts ist unmöglich.
Zwei. Simcock hatte ein großes Stück des Weges zum Konzertpianisten und klassischen Komponisten schon hinter sich gebracht, als ihm ein Lehrer ein Stück von Keith Jarrett vorspielte. Simcock war 15 Jahre alt, als er den Jazz entdeckte. Die Suite for Cello and Piano auf dem neuen Album mit ihren fließenden Übergängen zwischen Komposition und Improvisation demonstriert, worum es ihm hier wie dort geht: um Balance, Farbverläufe, ein raffiniertes Spiel mit Andeutungen, Querverweise.
Drei. Gwilym Simcock mit dem Schlagzeuger James Maddren und dem Kontrabassisten Yuri Goloubev: Im Kräftedreieck des Trios tupft er einige Akkordzerlegungen in den Raum, und Goloubev schiebt sich mit einer weit geschwungenen Melodie in den Vordergrund, mit messerscharfer Intonation und einem Bogenstrich, der von jahrelanger Erfahrung in einem klassischen Kammerensemble erzählt. Den europäischen Zungenschlag werden die drei nicht los. Sie belauern einander, reagieren aufeinander, verhalten und zupackend. Hier unterfüttert das Klavier den Gesang des Kontrabasses, dort nimmt Maddren am Schlagzeug die Akzenttropfen des Klaviers auf und verwandelt sie in einen Rhythmus, der von Takt zu Takt mehr Hitze abgibt, bis die Verhältnisse sich verflüssigen. Geografische Zuordnungen haben sich hier längst in einen Klang aufgelöst, der die alten Gegensätze aufhebt.
„Blues Vignette“ von Gwilym Simcock ist erschienen bei Basho/Rough Trade.
Dieser Text ist abgedruckt im Musikspezial der ZEIT Nr. 49/2009.