Zur urbanen Aggressionsabfuhr: Das Neil Cowley Trio macht Musik für Menschen, die tagsüber durch die City hetzen und abends in den Vororten beim Rotwein von der Terrasse auf Schafe gucken.
„Ich bin ein Kneipen-Rock’n’Roll-Klavierspieler“, sagt Neil Cowley. Kokett für den Chef eines recht erfolgreichen Jazz-Trios. Aber nicht gelogen: Cowley spielte, als er gerade erwachsen wurde, in Pub-Bands. Darunter angeblich eine, aus der Mark Knopfler just ausgestiegen war. Und eine, in der ein Heroinsüchtiger namens Chris die Gitarre spielte. Der floh einmal im Schwesternkittel über die Mauer der Entzugsklinik, stahl ein Auto, tankte es voll, ohne zu zahlen, spielte immer noch im Kittel einen Gig und wurde anschließend verhaftet. „Echte Rock’n’Roll-Geschichten“, sagt Cowley.
Neil Cowleys Vater war Komiker, der Pianist hat von ihm gelernt, wie man Pointen setzt. Als Knabe lernte er an der Royal Academy klassisches Klavier, trat als Zehnjähriger mit einem Konzert von Dmitri Schostakowitsch auf – in der Queen Elizabeth Hall, nicht im Pub. Aber es stimmt trotzdem: Cowley, Jahrgang 1972, kommt aus dem Rock’n’Roll, fing in Kneipen und einer Blues-Brothers-Tribute-Band an, spielte Keyboards bei soul- und funk-inspirierten Formationen wie Mission Impossible, Gabrielle, Zero 7 und den Brand New Heavies.
Sein erstes eigenes Projekt hieß Fragile State und bestand vor allem aus einem Haufen elektronischen Equipments in seiner Junggesellenwohnung in London, das jazzige Chill-Out-Musik fabrizierte. Vodafone übernahm einen Song für einen Werbespot, es folgten Soundtrack-Kompositionen fürs Fernsehen. Dann ging die Plattenfirma Pleite, Cowley verlor viel Geld – und die Lust auf all die Technik. Vielleicht hatte die Neuorientierung zum Akustischen auch etwas damit zu tun, dass er mittlerweile kein Junggeselle mehr war und in einem Haus draußen auf dem Lande lebte, im grünen Surrey.
Dann kam das Neil Cowley Trio, und sein Debüt Displaced gewann gleich den BBC Jazz Award als Album des Jahres 2006. Dabei fühlt Cowley sich gar nicht als Jazzer, behauptet trotz seiner unüberhörbaren Fähigkeiten gar, er habe Minderwertigkeitskomplexe gegenüber ausgebildeten Musikern. Denn er sei ja nur ein Kneipen-Rock’n’Roll-Klavierspieler – hat die Royal Academy geschmissen, konnte sich keinen Platz am Jazz-College leisten, spielte schon mit 16 in Kneipen für seinen Lebensunterhalt, lernte dort andere Musiker und über sie die Musik von Steely Dan, Pat Metheny und Miles Davis kennen.
Das Neil Cowley Trio betreibt denn auch die Fortsetzung des Rock’n’Roll mit den Instrumenten des Jazz. Cowleys Klavier, Richard Sadler am Bass und der Schlagzeuger Evan Jenkins: Die Besetzung ist konventionell – aber dieser Jazz hat dicke Muskeln. Mit Klangtapeten für die Lounge, Background-Gedudel für BBC-Dokumentarfilme hat das nichts mehr zu tun.
Der britische Record Collector vergleicht die drei mit dem schwedischen Esbjörn Svensson Trio und beschreibt das auf der Insel schon im April beim Indie-Label Naim Jazz veröffentlichte neue Album als „e.s.t. on steroids with the attitude of Motörhead„. Gedoptes e.s.t. mit Motörhead-Attitüde, also angekrasster Speedjazz mit lyrischen Momenten.
Radio Silence, das dritte Album des Cowley-Trios, enthält Musik für Menschen, die tagsüber durch die City hetzen und abends in den Vororten beim Rotwein von der Terrasse auf Schafe gucken. Cowleys seismisches Piano in Songs wie Monoface dient der urbanen Aggressionsabfuhr. Beim Durchrechnen der Hypothekenraten für das Eigenheim empfiehlt sich ländlich-harmonische Beruhigungsbeschallung wie der Titeltrack.
Der Verdacht liegt nahe, Cowley stehle sich ein Erfolgsrezept zusammen, nehme das gängigste mit aus seinen vielen poppigen Nebenprojekten. Auf Adeles Debütalbum 19 hat er gespielt, zum Beispiel das Intro zu Hometown Glory. Und auch bei Stereophonics-Aufnahmen hat er mitgewirkt. Inzwischen, sagt er, lehne er allerdings viele Aufträge ab, um sich dem Trio zu widmen.
Das ist viel mehr als ein Poppuzzle mit Jazzpolitur. Ja, da sind Hooklines und wiedererkennbare Riffs, und gäbe es Texte, man könnte sie mitgrölen. Aber zwischen stadionhymnische Akkorde und sanglichen Melodien sprenkeln sich versponnene Klavierklempnereien, minimalistische Momente folgen auf parodistische Passagen, gebettet in rascheligen Kammerjazz.
Die musikalischen Einfälle kommen so schnell, wie ein Schweinchen blinzelt; ein bisschen Erik Satie hier, drei Töne Kontrapunkt da. Keinen Platz finden minutenlange egomanische Exkurse ins Solo; Ideen sind zum Spielen da, nicht zum minutiösen Erforschen. Daraus entsteht ein ganz eigenes Werk, zu dem sich an vielen Stellen Zugang finden lässt und das daraus wohl seine Marktgängigkeit bezieht – das Trio spielt beim Glastonbury-Festival und im Jazzkeller und hat auch schon einen Guinness-Werbespot vertont.
Bei Live-Auftritten beeindruckt Neil Cowley Publikum und Kritiker mit hinterhältigem Witz, mit Bühnenpräsenz und Rampeninstinkt. Dank seiner Entertainer-Qualitäten bekommt er sowohl die Leute in den Griff, denen seine Musik ohne ein bisschen Humor zu schwierig wäre, als auch die hartgesottenen Jazzfreaks, denen sie zu leichtgewichtig vorkommt. Er ist eben ein Kneipen-Rock’n’Roll-Klavierspieler.
„Radio Silence“ vom Neil Cowley Trio ist erschienen bei Naim Jazz/ Rough Rrade