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Brustschwimmen kann sie schon

 

Die 19-jährige Adele aus London begeistert alle mit ihrem ruhigen Soul. Ihr Material ist herausragend, nur die Produzenten haben zu tief in die Trickkiste gegriffen.

Adele 19

Der alternative Radiosender Motor FM bewirbt seine Musikauswahl mit dem Spruch: „Höre es, bevor es der Mainstream entdeckt.“ Da fragt man sich unweigerlich: Was ist denn so schlimm daran, sich vom breiten, musikalischen Strom umspülen zu lassen? Was treibt diejenigen, die ihm vorausschwimmen müssen?

Es sind die feinen Unterschiede, die eine Gesellschaft strukturieren. Der distinguierte Geschmack des einen teilt ihn von den massenkulturellen Vorlieben des anderen. Es gibt aber auch immer wieder Momente, in denen sich beide einig sind. Momente, in denen Musik aus der Subkultur nach oben dringt und ein unerwartet großes Publikum erreicht, weil sie den Nerv der Zeit trifft. Es sind Momente, in denen sich die Popkultur erneuert und sich die Hörgewohnheiten der Massen verändern.

Aus dem britischen Untergrund krochen 2006 DJ Dangermouse und Cee-Lo Green hervor, sie nannten sich Gnarls Barkley und gaben dem Soul vergangener Jahrzehnte ein zeitgenössisches Gesicht. Die kommerziellen Radiostationen waren hocherfreut ob der frischen Klänge. Diesen Stil griffen Mark Ronson und seine Amy Winehouse auf, drehten noch ein bisschen mehr retrospektiven Seelenschmerz und Straßenglaubwürdigkeit hinein, und fertig war das Wunder: Das Album Back To Black brachte die Durchschnittshörer und die Trendsetter zusammen und setzte neue Maßstäbe.

Der weiße Soul war zurück. Er verband das Vergangene mit modernen Produktionsstilen, zerraspelte alte Hammondorgeln und schmutziges Schlagwerk und heftete elektronische Spielereien an die Schnittstellen.

Dieser Tage nimmt der weiße, der Northern Soul eine weitere Stufe auf dem Weg in die Konzertarenen. Die 19-jährige Adele Adkins aus London hat gerade ihr erstes Album veröffentlicht und schon jetzt alle auf ihrer Seite: die europäischen Radiostationen, die wählerischen Musikexperten und das große Publikum. Wer sie hört, mag sie.

Adeles Lieder sind schlicht und ergreifend. Ruhigen Popsongs fügt sie mit ihrer mal sanften, mal brüchigen Soulstimme das Besondere hinzu. Am schönsten klingt sie ganz allein mit Gitarre oder Klavier – ohne das Balladenorchester, das ihre Kaminzimmermusik zur kitschigen Schmonzette aufbläst. Adeles Material ist herausragend, nur ihre Produzenten haben zu tief in die Trickkiste gegriffen, so als trauten sie dem jungen Talent nicht.

Eg White, der bereits mit Joss Stone, Take That und James Blunt gearbeitet hat, ist verantwortlich für drei typische Popstücke auf dem Album. Die erste Single Chasing Pavements ist solch ein Lied, das White mit Streichern und Trommelwirbeln zwar radiotauglich gemacht aber auch kaputtproduziert hat. Adele hat Kleinodien geschrieben, die zu häufig von Ornamenten erdrückt werden. Auch Mark Ronson durfte einmal Hand anlegen – Cold Shoulder schwimmt im Fahrwasser von Amy Winehouse, setzt aber kein Segel.

Abseits der übergroßen Gesten auf Adeles Album 19 sind wenige zauberhafte Stücke geblieben: Daydreamer und Hometown Glory hallen dafür umso länger nach.

Ja, es gibt Momente in denen sich das Kleine und das Große zu neuer Qualität vermischen. Dieses Album allerdings wird die Hörgewohnheiten der Massen nicht verändern, denn es bleibt beim Altbekannten. Es hat die ballaststoffreichen Balladen für den Rundfunk und die feinen Stücke für daheim. Adele Adkins ist zu wünschen, dass man sie auf der zweiten Platte mit Kurven und Kanten gewinnen lässt. Sie hat gezeigt, dass sie im großen Strom brustschwimmen kann. Nun warten wir auf Schmetterlingsstil.

„19“ von Adele ist bei XL Recordings/Beggars Banquet erschienen.

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