Im US-Bundesstaat Virginia zeigen sich die USA im Kleinen: demografischer Wandel, wirtschaftliche Entwicklung, Wahlverhalten – Virginia ist ein Mikrokosmos, der widerspiegelt, was die USA spaltet, was sie zusammenhält. Unser Reporter Carsten Luther war in Richmond, Virginia, unterwegs.
Als Barack Obama 2008 die Präsidentschaftswahl in den USA gewann, hatte er das auch Virginia zu verdanken. Zum ersten Mal seit 1964 holte damit ein demokratischer Kandidat die Mehrheit dort. Vier Jahre später wird der Bundesstaat erneut zu denen gehören, die das Rennen um das Weiße Haus entscheiden, sagt der Politikwissenschaftler Kyle Kondik vom Center for Politics an der University of Virginia in Charlottesville.
ZEIT ONLINE: Die Bedeutung, die Virginia in dieser Wahl hat, ist eine relativ neue Entwicklung für den Staat. Jahrzehntelang haben die Menschen mehrheitlich republikanisch gewählt. 2008 hat Barack Obama hier gewonnen, inzwischen haben beide Parteien in Virginia eine solide Basis. Was ist passiert?
Kyle Kondik: Wenn man noch weiter zurückgeht, war Virginia wie alle Südstaaten nach dem Bürgerkrieg bei den Präsidentschaftswahlen immer demokratisch dominiert. Erst seit den fünfziger Jahren hat sich das verändert. Zwar waren die Demokraten auch noch nicht die liberale Partei, die sie heute sind. Doch die Republikaner lösten sie ab als bestimmende politische Kraft in einem konservativen Umfeld.
ZEIT ONLINE: Wie konnte Obama dann gewinnen?
Kondik: Ein Grund dafür ist die demographische Entwicklung in Virginia. 2008 machten Minderheitengruppen wie Schwarze oder Latinos 30 Prozent der Wähler aus. Landesweit waren es 26 Prozent. Damals stimmten vier von fünf Wählern aus diesen Gruppen für Obama, und diesmal wird es vermutlich wieder so sein, zudem wächst dieser Teil der Bevölkerung in Virginia besonders stark. Das hat die Dominanz der Republikaner, die in den ländlichen Gebieten noch sehr stark sind, gebrochen.
Hinzu kommt eine Entwicklung vor allem im Norden des Staates, wo durch die Nähe zu Washington der Staat einer der wichtigsten Arbeitgeber ist. Das hat genauso wie etwa das Ballungsgebiet um den Marinestützpunkt Hampton Roads im Südosten offenbar viele Menschen aus anderen Staaten angezogen, die eher den Demokraten zuzurechnen sind. Man kann das an entsprechend aufgeschlüsselten Umfragen ablesen: Die Menschen, die länger hier leben, sind konservativer, die Zugezogenen sind liberaler. Auf diese Weise hat sich Virginia zu einem umkämpften Staat in den Wahlen entwickelt, der auch diesmal eine besondere Rolle spielt.
ZEIT ONLINE: Vor diesem Hintergrund hat Obama aber doch die besten Chancen, in Virginia zu gewinnen.
Kondik: Ja, in den Umfragen führt der Präsident, aber es könnte eng werden. Entscheidend wird dabei nicht die Frage sein, für wen Schwarze oder Latinos hier stimmen werden – das ist ziemlich eindeutig, da hat Obama weiterhin die größte Unterstützung. Die Frage ist, wie hoch die Wahlbeteiligung dieser Gruppen sein wird.
ZEIT ONLINE: Kann es einen Präsidenten geben, der nicht in Virginia gewinnt?
Kondik: Theoretisch ist das natürlich möglich, aber 2008 war Virginia der Staat, der dem landesweiten Ergebnis am nächsten kam. Obama holte hier 52,6 Prozent und national 52,9 Prozent. Auch diesmal sollte man davon ausgehen, dass Virginia die Nation ziemlich genau widerspiegelt. Ich denke: Wie auch immer die Wahl im November ausgeht, Virginia wird an den Gewinner gehen. Zusammen mit Ohio ist es vermutlich der wichtigste Staat bei dieser Abstimmung.
ZEIT ONLINE: Und wie gewinnt man in Virginia?
Kondik: Die Themen unterscheiden sich nicht wesentlich von den Themen, die das ganze Land bewegen. Ich bin nicht sicher, wie viele Gedanken sich die Kampagnen darüber machen, ihren Wahlkampf auf die einzelnen Staaten zuzuschneiden. Aber ich glaube nicht, dass sie ihre Botschaft so stark anpassen müssen. Zum Beispiel ist Virginias Arbeitslosenquote deutlich niedriger als der nationale Durchschnitt, aber es gibt keinerlei wissenschaftlichen Hinweis darauf, dass die Wahlentscheidung mit der Arbeitslosenquote des einzelnen Staates zusammenhängt. Die Menschen wählen eher danach, wie die generelle Stimmung im ganzen Land ist.
ZEIT ONLINE: Hilft das nicht den Republikanern, die versuchen, Jobs und die Wirtschaft zu den zentralen Themen dieser Wahl zu machen?
Kondik: Vielleicht, aber sie wollen diese Wahl vor allem zu einem Referendum über Obamas Amtszeit machen. Und das ist einer der Gründe, warum der Präsident im Moment gewinnt: Die Menschen sehen es eher als eine Wahl zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Politikansätzen. Das Land ist polarisiert, und die Menschen ändern ihre Meinungen nur noch sehr schwer.
Grundsätzlich sieht es so aus, als hätten die Demokraten eine etwas größere Basis als die Republikaner. Es kommt nur darauf an, ob Obama seine Leute dazu bringt, wirklich wählen zu gehen. Denn für ihn besonders wichtige Wählergruppen, Minderheiten und junge Leute, sind eher unbeständig. Die Republikaner beispielsweise schneiden besonders gut ab unter den Senioren, das ist mit Sicherheit der verlässlichste Wählerblock. Trotzdem: Wenn beide Seiten ihre Basis voll motivieren können, gewinnt immer noch Obama.
ZEIT ONLINE: … dessen Sympathiewerte auch weitaus besser sind als die von Romney.
Kondik: Richtig, Romney hat sich nicht gerade als liebenswerte Figur präsentieren können, die Leute mögen ihn einfach nicht. Jetzt kommen die Fernsehdebatten, die in meinen Augen kein geeignetes Format sind, um das entscheidend zu ändern. Obamas Leute haben es von anfang an sehr gut verstanden, Romney als Kandidaten zu definieren, bevor er selbst es tun konnte. Romneys Leute konnten dem kein positives Bild entgegensetzen. Und die Zeit läuft ihnen davon, wahrscheinlich ist es zu spät.
Aber es gibt noch einen weiteren Faktor. Da ist diese Vorstellung, dass die Wirtschaft irgendeinen Aufschluss über den Wahlausgang geben könne. Dass es in der jetzigen Lage für den Präsidenten einfach sehr schwer sei, zu gewinnen …
ZEIT ONLINE: So sagt man.
Kondik: Ja, aber ich glaube, dass diese weit verbreitete Vorstellung falsch ist. Die Wirtschaft ist schwach, aber nicht schwach genug, um einen Sieg für Obama unmöglich zu machen. Die Republikaner wünschen sich, es sei 1980, als Jimmy Carter gegen Ronald Reagan brachial verlor. Doch die Wirtschaft sah damals viel schlechter aus, Carters Umfragewerte waren miserabel, er war wahnsinnig unbeliebt, er hatte seine eigene Partei nicht mehr hinter sich …
ZEIT ONLINE: Also hat es Romney trotz aller Unzufriedenheit, trotz der wirtschaftlichen Entwicklung nicht wirklich leicht gegen Obama?
Kondik: Nein, denn Obama hat auch noch einen strukturellen Vorteil: Wenn eine Partei das Weiße Haus neu übernimmt, so wie die Demokraten 2008, dann neigen die Amerikaner dazu, den Präsidenten für eine zweite Amtszeit zu wählen. Es gibt Ausnahmen, wie George H. W. Bush 1992, aber im Grunde hat er nur Ronald Reagans dritte Amtszeit übernommen. Ein weiterer Bonus für Obama ist: Er kann mit allem Recht argumentieren, eine verdammt schlechte Lage geerbt zu haben.
ZEIT ONLINE: Und Romney hat es sich auch selbst schwer gemacht …
Kondik: Er könnte sicherlich eine bessere Kampagne fahren. Er hat viele Fehler gemacht, manche Chancen nicht genutzt. Ob das wirklich einen Unterschied macht – ich weiß es nicht. Viele der Patzer haben doch nur bereits bestehende Meinungen über ihn bestätigt: ein reicher, weißer Typ, der mit einfachen Leuten nichts am Hut hat.
ZEIT ONLINE: Kann er selbst denn noch etwas ändern?
Kondik: Um es wirklich herumzureißen, müsste schon etwas passieren, was er nicht beeinflussen kann, vielleicht irgendeine internationale Entwicklung …
ZEIT ONLINE: Nicht gerade seine Stärke.
Kondik: Eben, das setzt ja auch voraus, dass er in der Lage wäre, einen Vorteil daraus zu ziehen. Er hätte es ja mit den Angriffen auf die amerikanischen Botschaften tun können, aber er hat es versaut, und es hat einige solcher Gelegenheiten gegeben. Manche sagen, er habe eine Wahl weggeworfen, die schon sicher schien. Aber hatte er überhaupt jemals eine Chance zu gewinnen? Und wenn er verliert, hätte es einen anderen Kandidaten gegeben, der hätte gewinnen können? Die Sicht, er habe doch so gute Karten gehabt und sie nur richtig spielen müssen, teile ich jedenfalls nicht. Es ist nicht so leicht, wie es am Anfang aussah.
ZEIT ONLINE: Das klingt alles so, als sei die Wahl schon gelaufen.
Kondik: Ich glaube nicht, dass es schon vorbei sein muss. Aber wenn Sie mich heute fragen, glaube ich definitiv, dass Obama gewinnt.
ZEIT ONLINE: Mit diesem Gedanken scheinen sich ja auch bereits einige Republikaner mehr oder weniger offen abzufinden.
Kondik: Ja, sicher, die lesen natürlich dieselben Umfragen wie alle anderen auch.