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Urlaub in Bayonne

(nach Heinrich Heine »Mein Herz, mein Herz ist traurig«)

Mein Herz, mein Herz ist traurig,
Doch lustig leuchtet der Mai.
Ich lieg mit gebrochenem Bein
im Krankenhauseinerlei.

Da drunten blühen die Blumen,
Die Palmen winken mir zu.
Statt im Atlantik zu schwimmen,
Weile ich in erzwungener Ruh.

Das Personal ist freundlich
in weißer und blauer Gestalt,
Versorgt mich mit allem, was nötig.
Ich vermisse Wiesen und Wald.

Die Ärztin versorget die Brüche,
ist freundlich und geschickt.
Die Schwester hat neu verbunden,
Was operativ geflickt.

Auf dem Dache gegenüber
Ein Helikopter steht.
Er wartet auf seinen Einsatz,
Wenn’s jemand wie mir ergeht.

Viel Schlimmes kann passieren
Zwischen Morgen- und Abendrot,
Viel kann man reparieren.
Ich freu mich: ich bin noch nicht tot.

Andrea Dresely, Pöttmes-Wiesenbach, Bayern

 

Flutlied

Nach Matthias Claudius – KRIEGSLIED (1779)

S‘ ist Flut! s‘ ist Flut! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
s‘ ist leider Flut — und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt‘ ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Durchnässt und bleich und blass,
Die Geister der Ertrunk‘nen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?

Wenn wack‘re Leute, die sich Heimat suchten,
Verzweifelt und halb tot
Im Schlamm sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer großen Not?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor der Flut,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Verwünschten mich voll Wut?

Wenn Hunger, böse Seuch‘ und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich‘ herab?

Was hülf‘ mir i-pod, Land und Geld und Ehre?
Die könnten mich nicht freu‘n!
’s ist leider Flut — und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Franz Richter, Hannover, Niedersachsen

 

Was mein Leben reicher macht

Das Telefon läutet. unsere Tochter Charlotte, 19, berichtet glücklich-aufgeregt, dass sie mit der Bahn-App auf ihrem Handy ihre Fahrkarte nach Bullay jetzt selbstständig bestellen kann – mit Sprachausgabe. Charlotte ist schwerbehindert und besucht eine Blindenschule in Stuttgart.

Rainer Senkbeil, Zell an der Mosel

 

Die Hand-Studie

s86-wiedergefunden

Beim Ausräumen der elterlichen Dachkammer meine Skizzenmappe wiedergefunden. Kunststudium, dreißig Jahre her, viele Flausen im Kopf damals. Das Leben hatte anderes mit mir vor. Meine Tochter blättert die Mappe durch und entdeckt eine winzige Bleistiftstudie. Sie bittet mich, ihr genau so ein Bild in ganz großem Format zu malen. Sofort habe ich diesen besonderen Geruch des Leinöls in der Nase, und ich stelle mir vor, wie es wäre, wieder an einer Staffelei zu stehen. Ob ich es noch kann?

Esther Augustin, Kiel

 

Was mein Leben reicher macht

Anfang Juni, seit Tagen Dauerregen, Hochwassermeldungen. Auf dem Uferradweg der Dreisam kommt mir eine Radlerin entgegen die singt: »It’s summertime!« Recht hat sie, wir geben die Hoffnung nicht auf!

Dagmar Schweiger, Freiburg im Breisgau

 

Was mein Leben reicher macht

Der Anruf meines Schwiegersohnes: »Hast du Lust, heute mit uns essen zu gehen?« Ich hör darin die Fürsorge meiner Tochter und ihres Mannes, nachdem mein Gatte mir nach dreißig Ehejahren eröffnet hat, dass er nicht mit mir alt werden möchte und sich per Agentur eine neue Partnerin sucht.

Kristine Judersleben, Horb am Neckar

 

Speisekammer: Mein Wort-Schatz

Die gute alte Speisekammer – schade, dass sie ausgedient hat! Nur in wenigen Häusern ist sie noch zu finden. Als Kinder fühlten wir uns magisch angezogen von den köstlichen Düften und Leckereien. Wie gerne hätten wir uns das eine oder andere Plätzchen stibitzt oder ein Weckglas mit süßem Quittenkompott. Aber getraut haben wir uns das nicht. im Winter, ein paar Tage vor Weihnachten, hing die Gans im offenen Fenster – einen Kühlschrank gab es so kurz nach dem Krieg nicht. und im Sommer haben wir die leeren Weckgläser als Heimstatt für Molche und Salamander aus dem Baggersee zweckentfremdet – zum Verdruss unserer Mutter. Etwas allerdings war grässlich in der Speisekammer: Dort wurde uns der tägliche Löffel Lebertran nach dem Mittagessen verabreicht. igitt!

Regine Rogge, Bargteheide, Schleswig-Holstein

 

Was mein Leben reicher macht

Mein Mann brütet im Arbeitszimmer über Excel-Tabellen. Unser siebenjähriger Sohn spielt ganz leise hinter ihm. Dann folgender Dialog: »Musst du da auch rechnen?« – »Mhmm.« – »Auch über 100?« – »Jaa!« – »Dann bringt ja Schule echt was!«

Verena Schulz, Grabau, Herzogtum Lauenburg