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Was mein Leben reicher macht

Morgens im IC Köln–Leipzig. Ich döse vor mich hin. »Zugestiegene?«, fragt die Kontrolleurin. Ich reiche ihr, etwas unwillig ob der Störung, meinen Fahrausweis. Da erklingt im schönsten singenden Kölner Dialekt: »Hamma onnoch en lecker Bahnkärtsche?« Lächelnde Gesichter im Abteil – beschwingt setze ich die Reise fort.

Günter van Mark, Herford

 

Was mein Leben reicher macht

Meine Schwägerin, die ihre alzheimerkranke Mutter mit großer Fürsorge pflegt. Und diese, die liebste aller Schwiegermütter, die zwar schon lange nicht mehr spricht, aber die Frage, ob der Kaffee schmecke, doch noch mit einem eindeutigen »Ja« beantwortet.

Sabine Schwieder, Ostfildern

 

Was mein Leben reicher macht

Eines Abends ging ich an einer viel befahrenen Straße entlang und hörte eine Amsel singen. Gegen den Verkehrslärm und die Dunkelheit trug sie ihr Lied vor. Es kam mir vor, als wäre ich ihr einziger Zuhörer.

Richard Herrmann, Ludwigsburg

 

Was mein Leben reicher macht

Zwei junge Männer auf der Straße. Der eine schiebt einen Kinderwagen. Sie umarmen sich voller Wiedersehensfreude, beugen sich über das Baby, lachen und strahlen über die (bärtigen) Gesichter. Ich gehe vorbei und denke, dass mich diese moderne Männlichkeit glücklich macht.

Kerstin Palzer, Magdeburg

 

Was mein Leben reicher macht

Das Frühjahr lässt auf sich warten. Ich sitze mürrisch am Küchentisch. In der Was mein Leben reicher macht-Kategorie lese ich von einem gelben Sonnenschirm, der neben einer Berliner Balkontür steht und dessen Einsatz mit Freude erwartet wird. Ich blicke aus dem Küchenfenster und stutze: Auf einem Balkon gegenüber steht ein ebensolcher gelber Sonnenschirm. Ich freue mich mit.

Svenja Post, Berlin

 

Zeitsprung: Krieg und Film

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Als Arbeitsloser habe ich gelegentlich als Komparse gearbeitet. So etwa 2003 für eine Fernsehproduktion (Der Wunschbaum), die im Ersten Weltkrieg spielt. Bei den Dreharbeiten, bei denen wir uns oft auch gegenseitig fotografierten, entstand die rechte Aufnahme. Mein Erstaunen war groß, als ich einige zeit später alte Familienfotos sortierte und dabei (links) auf eine ganz ähnliche Fotografie meines Vaters aus dem Jahr 1915 stieß. Mein Vater (Jahrgang 1897) diente – ungern – in beiden Weltkriegen. Er überstand sie aber mit geringen Verletzungen, sodass er bis zu seinem Tod 1973 eine Buchhandlung in Hamburg führen konnte. Mein Bruder und ich wurden pazifistisch erzogen. Wir durften nicht einmal mit Plastikwaffen spielen – worauf ich sehr stolz bin. Der Bundeswehr entging ich in Berlin.

Jürgen Wallenstein, Berlin

 

Straßenbild: Bestrickend

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Saulgrub ist ein kleines Dorf im bayerischen Voralpenland. Keine großen Attraktionen; die meisten Leute fahren durch, richtung Oberammergau. So wie ich. Doch dann sah ich an der Straße plötzlich diesen Baum. Unbekannte hatten ihn in ein Kunstwerk verwandelt. Der Anblick ließ mir das Herz aufgehen: Schönheit ohne zweck, die die ganze Straße verzauberte.

Franz Huber, Bad Kohlgrub, Oberbayern

 

Was mein Leben reicher macht

Die EU – wie sonst hätte ich als Deutsche in England über einen Französisch-Kurs meinen belgischen Verlobten getroffen? Jetzt leben wir multikulti in Deutschland – und am Osterwochenende heiraten wir!

Teresa Buhle, Weinstadt, Baden-Württemberg

 

Männer-Lockfädchen: Mein Wort-Schatz

Bei einer Klassenreise begleitete mich eine Kollegin, die ihre Kindheit und Jugend in Rostock verbracht hatte. Eines Morgens trug ich eine Bluse, deren oberster Knopf offen stand. Mit geschärftem Blick stürzte sich die Kollegin auf diesen Knopf. »Ein Männer-Lockfädchen!«, rief sie aus. »Nein«, sagte ich und zog an dem Faden, bis sich der Knopf von der Bluse gelöst hatte und sicher verwahrt war. Ob es sich bei dem Wort um einen typisch ostdeutschen Ausdruck handelt oder um ein sprachliches Vorkriegsrelikt, das in der DDR überlebte, weiß ich nicht. In jedem Fall stammt es aus einer Phase, als die Herren die Garderoben ihrer Damen genau überprüften und gern auch mal korrigierend eingriffen – was sich die eine oder andere wohl zunutze machte.

Claudia Guderian, Hamburg