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Was mein Leben reicher macht

Wenn meine Schülerinnen und Schüler nach der sechsten Stunde das Klassenzimmer partout nicht verlassen wollen. Wir haben gerade eine Rechtschreib- und Lesestunde (dritte Jahrgangsstufe) beendet, da rufen sie lautstark im Chor: »Es ist so schön! Wir bleiben hier!«

Otto Fenner, Berlin (Neukölln)

 

Zeitsprung: 70 Jahre nach der Schlacht

Das Foto links stammt aus dem Jahre 1942 und zeigt das Kaufhaus Univermag in Stalingrad. Es diente im Zweiten Weltkrieg als letztes Hauptquartier von Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, der auf Befehl Hitlers die Kapitulation auch dann noch ablehnte, als seine Truppe im Januar 1943 vollständig von russischen Soldaten eingekesselt war. Knapp 70 Jahre später habe ich die rechte Aufnahme von dem Gebäude gemacht, dessen runder Eingang trotz der vielen Anbauten noch zu erkennen ist. Das Foto entstand bei einem Vorbereitungsbesuch, denn bald wird das Osnabrücker Symphonieorchester, dem ich als Geiger angehöre, als erstes deutsches Ensemble nach dem Krieg in die Stadt reisen, die heute Wolgograd heißt. Zusammen mit dem dortigen Philharmonischen Orchester gedenken wir am 3. Februar in einem gemeinsamen Konzert der Opfer der furchtbaren Schlacht. auf meine Frage, ob deutsche Musiker an diesem Tag überhaupt erwünscht seien, antwortete mir bei meinem ersten Besuch eine Überlebende: »Sie sind herzlich willkommen! Wir lieben die Deutschen, und wir hassen die Faschisten« – was mir die Tränen in die Augen trieb.

Christian Heinecke, Osnabrück

 

Was mein Leben reicher macht

Edith (92) lebt in einer Demenzwohngemeinschaft. Sie sitzt im Rollstuhl bei Tisch. Ihre Augen sind, wie fast immer, geschlossen. Kommunikation mit ihr ist nur noch über die Hände möglich. Selten gelingt ihr ein Wort, einen ganzen Satz haben wir seit Monaten nicht mehr gehört. Da sagt jemand am Tisch, auf eine Berührung bezogen: »Das hat sie jetzt aber gemerkt.« Ich belehre: »Sie merkt alles. und sie versteht auch alles.« Dennoch traue ich meinen Ohren nicht, als Edith – wie aus der Pistole geschossen – sagt: »Da bin ich mir nicht sicher.«

Brunhilde Becker, Oldenburg

 

Was mein Leben reicher macht

Zu Besuch in meiner Heimatstadt jogge ich an einem Januar Nachmittag auf dem matschig-durchweichten Elbdeich: Mir spaziert ein älteres Paar Hand in Hand entgegen. Um mir Platz zu machen, weicht der Mann aus und tritt in einen Haufen Schafsköttel – sie schauen sich an und fangen herzlich an zu lachen.

Henrike Gosemann, Glückstadt, Schleswig-Holstein

 

Was mein Leben reicher macht

Unser Sohn ist zum Studium fortgezogen. In der ersten Nacht lässt mich die Stille des Zimmers nebenan nicht schlafen. Plötzlich von dort leises Fiepen – es ist der Rauchmelder, der gerade heute mitteilen möchte, dass seine Batterie schwach wird. Und was, wenn er anderen Kummer hätte? Sorgt er sich vielleicht, dass irgendwo nun jemand schutzlos liegt, oder hat auch er Sehnsucht und ruft, so laut er eben kann? – Ich schicke ihn gleich am nächsten Morgen mit frischer Batterie zu seinem Schutzbefohlenen.

Willi Hendrichs, Aachen

 

Was mein Leben reicher macht

Meine 25 Jahre alte, eiserne Lieblingspfanne hatte einen Teil ihres Griffs verloren. Im Internet sah ich, dass der Hersteller von einem anderen Unternehmen übernommen worden war. Ich schickte eine E-Mail hin, um zu erfahren, an wen ich mich wegen der Ersatzteile wenden könnte. Kurz darauf kam ein Päckchen mit kostenlosem Ersatz. Toll!

Johannes Köder, Ellwangen, Baden-Württemberg

 

Die Kritzelei der Woche

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Seit einem Jahr wohne ich in einer WG im ehemaligen polnischen Konsulat von Leipzig. Während unseres Mitbewohnercastings für das freie Zimmer von Masaki (der mit seiner Freundin zusammenzog) entstand diese Kritzelei. Nach acht Begegnungen der unterschiedlichsten Art fiel die Wahl übrigens auf Kai – und auf Harry, sein sechs Wochen altes Kätzchen!

Rebekka Lenz, Leipzig

 

Kobolz: Mein Wort-Schatz

Wenn meine Oma mit uns Fußball schaut, dann nicht der Tore wegen. Am spannendsten findet sie die Fouls und Rangeleien – und die Spieler, die alle paar Minuten Kobolz schiessen, also hinfallen oder sich überschlagen. Die Zeitlupe lässt das ja oft sehr lustig aussehen. »Kobolz schießen« ist ein Ausdruck, den auch ich mir früher oft von meiner Oma anhören musste – wenn ich mal wieder über meine eigenen Füße gestolpert bin. Ihn beim Fußball zu verwenden scheint mir gar nicht so weit hergeholt: Schließlich haben alle Profispieler mal auf dem sogenannten »Bolzplatz« angefangen.

Franziska Viebach, Dresden

 

Das ist mein Ding

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“Diese Handschuhe mit den beiden zusammengewachsenen Händen strickte mir bei meiner zweiten Heirat meine Tochter als Hochzeitsgeschenk. Cornelia wirkte auch als Trauzeugin (der andere Zeuge war Renato, der gleichaltrige Sohn des Bräutigams). Ihr symbolischer Glückwunsch ziert nun seit 24 Jahren unsere Schlafzimmerwand und scheint seine Wirkung nicht verfehlt zu haben.

Hannelore Ciofi Iannitelli, Cerveteri, Italien

 

Ich schäme mich

(nach Rainer Maria Rilke, »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«)

Ich schäme mich: Der Politiker Wort
legt alles unklar, verworren dar.
Ich weiß nicht, was wird, und nicht: Was ist wahr.
Probleme schieben sie weit von sich fort.

Mich ärgert Leichtsinn. Banalität
bestimmt ihr Handeln. Wo führt das hin?
Ich frage mich, ob ich der Einzige bin,
der maßlos in Trauer, in Wut gerät.

Ich fürchte die Herrschaft der Plutokratie,
die Mensch und Natur Katastrophen bringt.
Dahin sinkt alles, und nichts gelingt.
Empört euch doch endlich – jetzt oder nie!

Dieter Klein, Hildesheim