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Das Glasauge

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Im Jahr 1944 ging mein geliebter Teddybär mit mir auf die Flucht von Königsberg gen Westen. Obwohl ein Jahr jünger als ich – nämlich fünf – war er bereits ein wenig ramponiert: Ein Auge war beim Spiel verloren gegangen und blieb unauffindbar. So wurde Ersatz gestickt.
Mehr als 50 Jahre später war es mir möglich, nach Königsberg, nunmehr Kaliningrad, zurückzukehren. Unsere ehemalige Wohnung in der früheren Zeppelinstraße wurde gerade umgebaut, mancherlei Fundstücke aus »unserer Zeit« hatte jemand in einer Bonbondose gesammelt, und ich durfte in den Schätzen kramen: ein Knopf vom Sommerkleid, ein Spielsoldat, eine Wäscheklammer, ein Zopfhalter. Und dann schaute mir plötzlich das Glasauge entgegen, das verlorene. Es hatte seine Farbe – bis auf die Pupille – fast vollständig verloren, die Halterung war total verrostet. Ich habe es voller Freude mit nach Hause genommen und vorsichtig an dem Bauch- verband befestigt, den mein Teddy inzwischen braucht.

Ute Gerull, Reppenstedt, Niedersachsen

 

Was mein Leben reicher macht

Es ist schon dunkel, und ich liege im Bett. Mein Mann kommt ins Schlafzimmer. Das Licht schaltet er jedoch nicht ein. Dafür funzelt er mit seiner neuen Taschenlampe im Dunkeln herum. Dann fragt er: »Was bin ich?« Ich: »Ein Armleuchter?« Er, schwer beleidigt: »Ein Glühwürmchen!«

Trude Berg, Heidesee, Brandenburg

 

Schwippschwager: Mein Wort-Schatz

Ein besonders witziges Wort ist für mich Schwippschwager. Es wird ziemlich selten gebraucht, die meisten Leute verwenden nur das Wort »Schwager«. Mit der Vorsilbe »Schwipp-« aber wird das Verwandtschaftsverhältnis genauer beschrieben. Mein Schwager ist der Mann meiner Schwester, für meinen Mann aber ist er der Schwippschwager. Das finde ich ziemlich witzig, aber auch ein bisschen bürokratisch, denn ein Schwippschwager ist eben »nur« ein Angeheirateter, sozusagen ein Zufallsverwandter. Doch egal, ob mit oder ohne Schwipp: Hauptsache, die Schwäger und Schwägerinnen verstehen sich! Und das vielleicht notwendige Schwipp macht es nur noch lustiger.

Sabine Wilms, Kassel

 

Zeitsprung: An der Grenze

»Bis zur Grenze 5 km, wenn Flensburg deutsch bleibt«, so steht es auf dem Schild, das Demonstranten anlässlich der Volksabstimmung vom 10. Februar 1920 vor unserem Haus aufgestellt hatten. Mein Großvater war zu diesem Zeitpunkt Arzt in Gravenstein, das nach dem Ergebnis der Volksabstimmung dänisch wurde und heute Gråsten heißt. Also zog er mit seiner Praxis nach Flensburg um, in das abgebildete Haus, in dem auch nachfolgende Generationen als Ärzte arbeiteten. Heute ist das längst Geschichte. Deutsche und Dänen leben freundschaftlich auf beiden Seiten der offenen Grenze zusammen. Und unser Haus ist ein kleines Symbol dafür, wie Verhältnisse und Beziehungen unter den Menschen sich ändern und verbessern können, wenn die Menschen es nur wollen.

Hartwig Becker, Flensburg

 

Was mein Leben reicher macht

Ich bin Architekt. Zu meinem Geburtstag übersandte mir meine Mutter, 91, einen Bildband über Brücken und dazu ein von ihr verfasstes Gedicht im Haiku-Stil:
Ihr überwindet
die Tiefe und verbindet
das Getrennte: die Brücken.

Ulrich Stein, Bonn

 

Die Kritzelei der Woche

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Während unserer Konferenzen muss meine Kollegin Gisela zu meiner Irritation immer irgendetwas kritzeln. Danach wandert das Werk in den Papierkorb. Diesmal schaute ich nach und fand mich porträtiert. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat, dass meine Ohren zu einem Blättergestrüpp wachsen. Und vor allem weiß ich nicht, ob die Kollegin meinen Worten in der Konferenz ihr Ohr geliehen hat.

Rolf Brüggemann, Zell unter Aichelberg, Baden-Württemberg

 

Die Kastanie

Ich bin 1932 geboren. Als ich in den fünfziger Jahren einen jungen Mann kennenlernte, stand vor seinem Elternhaus eine wunderschöne Kastanie. Abends saßen wir mit Freunden auf einer Bank darunter, und die Zeit unserer Liebe begann. Zur Kastanie gehörte das Lokal meiner Schwiegereltern. Dort feierten wir unsere Hochzeit, und später übernahmen wir das Lokal. Nach dem Tod meines Mannes musste ich es verkaufen.
Ich wohne aber immer noch so, dass ich aus meinem Fenster die Kastanie sehen kann, im Frühjahr, wenn sie ihre Kerzen aufsteckt, und im Herbst, wenn die Kinder ihre Früchte aufsammeln.
Dieser Baum hat mein ganzes Leben begleitet: die Zeit unserer jungen Liebe, Arbeitsjahre, Küchenjahre, den Abschied von meinem Mann, vom Restaurant, von vielen lieben Gästen. Meine Kinder und später noch die Enkel haben unter der Kastanie gespielt. Viele Feste haben wir unter dem Baum gefeiert.
Nun habe ich im Alter noch jemanden liebgewonnen, und wir genießen jetzt zu zweit beim Frühstück den Blick auf die Kastanie. Hoffentlich noch recht lange!

Gertrud Holthaus, Wuppertal

 

Was mein Leben reicher macht

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Von einem Chorkind zu Beginn der Probe ein Blümchen geschenkt zu bekommen. Ich bin ganz entzückt und lege es schnell in ein Glas mit etwas Wasser. Am Ende des Probentages stelle ich es meiner Kollegin zum Freuen ins Zimmer und bekomme zum Dank die Episode aus Harry Potter erzählt, in der sich eine Lilienblüte in einem Wasserglas in einen Fisch verwandelt.

Ulrike Schelter-Baudach, Wunsiedel

 

Was mein Leben reicher macht

Im Bus nach der Schule, wenn ich meine Musik ganz laut höre mit meinen neuen Kopfhörern und alles andere für eine halbe Stunde vergessen kann.

Celina Döring, Ringheim, Bayern