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Mein Wort der Woche

„Wenn die Welt zusammenbricht, geht es nicht um die Frage, was zu retten ist, sondern: was werden wir nicht los?“

Fabienne Javourez hat diesen Satz auf der Rückseite des Buches Le paquet von Philippe Claudel gefunden

 

Frühling

Wind schiebt Wolken fort,
Sonnenstrahlen in Pfützen,
Vogelgezwitscher

Sabine Moewert-Jelonnek, Bosau

 

Sonnenuntergang am anderen Ende der Welt

© Katharina Ruppmann

Freiheit pur: Aus dem Van heraus gemeinsam in den neuseeländischen Sonnenuntergang zu blicken, wo nichts die Ruhe stört außer der Wind, der den Van auf dem Gipfel der Banks Peninsula zum Schwanken bringt und mich langsam in den Schlaf wiegt.

Katharina Ruppmann

 

Abwaschen mit Adorno

Eine Entdeckung im Internet: der Deutschlandradio-Wissen-Podcast Hörsaal. Nun kann ich beim Abwaschen Adorno hören und mich über das rollende „r“ akademischer Rhetorik der fünfziger Jahre freuen. Die Fenster putzen sich viel leichter, wenn dabei Herbert Marcuse Über Gleichgültigkeit gegen die Kultur philosophiert. Sockensortieren war schon immer eine Qual, doch wenn Ralf Dahrendorf in einem Vortrag von 1959 über Arbeiter im Ruhrgebiet und ihre Zufriedenheit im Bergwerk spricht, wird es zum Vergnügen. Ohne Ähs und andere Füllwörter haben diese Wissenschaftler gestochen scharf und frei gesprochen – besser, als heute manch einer schreiben kann.

Philip Kraut, Berlin

 

Ein Loch in der Mauer

ZEIT-Leser Felix Evers an der Berliner Mauer (l.) und mit seinem Schulfreund Peter Brandt

Im April 1990, vor genau 20 Jahren, fuhren mein Schulfreund Peter Brandt und ich nach Berlin und Rügen. Kurz vor unserem Abitur wollten wir Zeitzeugen der Deutschen Einheit sein. So entstand auch das Foto, das Peter von mir gemacht hat: Mit dem Pickel schlage ich Stücke aus der Berliner Mauer.

Peter Brandt auf dem Weg nach Rügen

Heute, 20 Jahre später, möchte ich Dir, lieber Peter, diesen Gruß schicken. Weißt Du noch, wie wir ununterbrochen The Great Commandment hörten – damals noch auf Musikkassette im VW-Golf? Und zum ersten und letzten Mal einen Trabi fahren durften? Und Briefe aus der DDR nach Schinkel schickten (die ich alleine wegen der Briefmarken heute gern wiedersehen würde …)? Schade, dass ich nicht mehr weiß, wo ich Dich heute erreichen kann. Deshalb dieser Gruß in unserer ZEIT. Gesegnete Ostern!

Pfarrer Felix Evers, Ratzeburg

 

Mit Johnny Cash in der Altherren-WG

Seit meine Freundin sich von mir getrennt hat, lebe ich wie in einer Altherren-WG: Johnny Cash singt für mich, Clint Eastwood erzählt die großen Geschichten, Philip Roth und Cormac McCarthy erklären mir die Welt. Der Glücksfall der letzten Woche: Johnny Cashs postmortales Meisterwerk Ain’t No Grave. Es ist so wunderschön, dass man dem großen alten Mann fast Glauben schenken möchte. Dann fällt mir Philip Roths Verwirrspiel Operation Shylock in den Schoß. Leben und Tod in all seinen Schattierungen – keine schlechte Woche in meiner Altherren-WG.

Dirk Benker, Nürnberg
(Ain’t No Grave ist bei American Recordings erschienen, Operation Shylock im Hanser Verlag)

 

Hilfreiche Katerstimmung

Ich faste jedes Jahr. Obwohl mir die Askese schwerfällt. Nun lese ich zu allem Auszehrungsunglück auch noch das Buch Das bin doch ich von Thomas Glavinic. Da wird auf jeder Seite getrunken. Gut: auf jeder zweiten Seite gesoffen. Ich bin noch unentschieden, ob die Katerstimmung auf jeder vierten Seite meiner Abstinenz zuträglich ist oder nicht. Das Buch jedenfalls bringt mich munter durch die Fastentage.

Susanne Jasper, Wedtlenstedt bei Braunschweig
(Das bin doch ich ist im Hanser Verlag erschienen)

 

Zeitsprung: Wiedenbrücker Kreuztracht

Kreuztracht Wiedenbrück 1927

Wegen dieses Fotos von 1927 war ich an einem Karfreitag, genau 80 Jahre später, zu Besuch bei einer alten Dame. Ich suchte die genaue Perspektive! Aus ihrem Wohnzimmerfenster habe ich die „Wiedenbrücker Kreuztracht“ neu fotografiert. Ein Freiwilliger trägt bei diesem religiösen Brauch das Kreuz über Kopfsteinpflaster und vorbei an Fachwerkfassaden. Auch acht Jahrzehnte später stürzt der Kreuzträger an fast derselben Stelle.

Kreuztracht Wiedenbrück 2007Genau betrachtet, erschließen sich mir aber auch Veränderungen: Früher waren die meisten Menschen im Bild Teil des Ereignisses. Heute bleibt die Mehrheit in der Rolle des Zuschauers. Ich habe versucht, in den Blick des früheren Fotografen einzutauchen.
Durch die Suche nach dem exakten Blickwinkel habe ich mehr über meine Heimatstadt erfahren. Und ich habe die alte Dame kennengelernt, die mich in ihr Wohnzimmer ließ.

Andreas Kirschner, Rheda-Wiedenbrück

 

Ostern

Die Kurse steigen
Der Tod ist überwunden
Das Spiel geht weiter

Thomas Lucchi, Saarlouis

 

Das regt mich auf: Hund klaut Wurstsemmel

© judigrafie / photocase.com

Ich rege mich nie auf. Außer ich habe einen Grund. Letzte Woche zum Beispiel:
Großmutterdienst in der Innenstadt. Ich schiebe den Kinderwagen. Drin thront meine Enkelin Lea, die gerade ihre Wurstsemmel verzehren will. Auf einmal springt ein Riesenhund mit scharfen Zähnen daher und schnappt, genau zwischen Händchen und offenem Mündchen des Kindes, die Wurstsemmel weg.
Schriller, langer, nie enden wollender Aufschrei. Tausend Alarmglocken in meinem Großmutterherzen: Der Hund hat die Hände und die Zunge meiner Enkelin abge-bissen! Nein. Die Hände sind da. Ich zähle die Fingerchen. Zehn. Auch der brüllende Mund ist unversehrt, die Zunge und alle Zähne sind noch drin. Die Alarmglocken werden leiser. Leas markerschütterndes Schreien nicht.
Der Hund und sein Besitzer sind weitergegangen. Ich schreie: „Sie, Ihr Hund hat gerade die Wurstsemmel meiner Enkelin gefressen!“ Der Mann dreht sich um, schmunzelt und sagt beinahe vorwurfsvoll: „Na, Sie müssen schon aufpassen!“ Und zieht von dannen mit seinem Monster.
Der Hundeführerschein, über den bei uns in Österreich gerade diskutiert wird, ist zwar eine gute Idee. Aber ich plädiere für einen viersemestrigen Benimmkursus für Hundebesitzer. Mit obligatem Feingefühlseminar.

Marie-Luce Eröd, Wien