Lesezeichen
 

Mein Foto des Jahres


Mein Foto des Jahres habe ich im Sommer in Mindelo, Kapverden, aufgenommen. Eine Stunde zuvor hatte sich mein Freund am Telefon von mir getrennt. Ich ging auf die Straße und fand, dass ich jetzt wirklich ein Zeichen für den Sinn dieses verflixten Lebens brauchte. Da sah ich das Auto. Ich machte ein Foto und dachte: »Okay! Das wird mein Motto für den Rest des Jahres.«

Susanne Niemeyer, Hamburg

 

Mein Wort-Schatz

In einem Hotel fiel mein Blick auf den gerahmten Nachdruck eines alten Zeitschriften-Titelblattes von Le Monde Illustré. Dabei erinnerte ich mich an das wunderbare Adjektiv illuster, das meine 83-jährige Mutter gerne mit leicht ironischem Unterton verwendet: »Ich hatte heute illustre Gäste!« Aus meinem Sprachgebrauch ist es schon fast verschwunden. Schade eigentlich

Werner Motyka, München

 

Was mein Leben reicher macht

Eine alte Hand schiebt sich in meine und hält sie ganz fest. Sie gehört einer Dame in dem Altenheim, in dem ich ehrenamtlich arbeite. Frau K. möchte nur noch nach Hause. In ihrem früheren Leben war sie Dozentin an der Universität Perugia, doch seit Langem fallen ihr die meisten Wörter nicht mehr ein. Jetzt nennt sie mir immer wieder ihre alte Adresse und sieht mich flehend an. Ich lächle ihr zu und verspreche, dass ich sie nicht allein lassen werde. Für einen kurzen Moment vergisst sie ihre Angst und Traurigkeit und gibt mir ein Küsschen, mit schokoladenkuchenverschmiertem Mund.

Ilse May, Garmisch-Partenkirchen

 

Die Bilder des Jahres

Nach 20 Jahren, die Carsten Wend und seine Lebensgefährtin Katrin bestens ohne Trauschein und umso besser mit der gemeinsamen Tochter Hannah gemeistert haben, hat Herr Wend am 31. Mai in der ZEIT der Leser gefragt: „Liebe Katrin, möchtest Du mich heiraten?“ Die frohe Botschaft ist: Sie wollte. Die Fotostrecke mit den Bildern des Jahres auf ZEIT ONLINE hat Herrn Wend inspiriert, uns seine Bilder des Jahres zu zeigen.

Am 6. Oktober diesen Jahres haben wir also geheiratet. Direkt im Anschluss sind wir zu dritt auf Hochzeitsreise nach Kreta geflogen. Vorher haben wir die Einladungskarten für ein Gartenfest im Juni des nächsten Jahres an unsere Freunde verschickt – die nichts von unseren Plänen wussten. Vorne auf der Karte war das Bild von einem Strandspaziergang auf Sylt zu sehen, darauf der Text: „Nach 20 Jahren sturmerprobt…“

Auf der nächsten Seite stand: „… haben wir heute geheiratet“. Dazu war das zweite Bild von uns mit unserer Tochter zu sehen, und die Einladung zum Gartenfest.

Nach zwei stürmischen Jahren hat sich zur Zeit ein wenig Ruhe eingependelt. So bleibt das Leben windig und wird 2012 mit unseren Freunden stürmisch gefeiert.

Carsten Wend, Elmshorn

 

Was mein Leben reicher macht

Nahren, mein Deutsch-Nachhilfekind, ein stets vergnügtes neunjähriges Mädchen irakischer Herkunft, bringt ihre Hausaufgaben zu mir mit. Es geht um den Münchner Oberbürgermeister und unter anderem um die Frage, wie lang er schon im Amt sei. Ich weiß es auch nicht. Nahren schaut mich leicht verwundert an: »Frau B., wie haben Sie das mit der Einbürgerung geschafft?«

Gerda Bödefeld, München

 

Was mein Leben reicher macht

Endlich wieder Klavier zu spielen! Nach zwei Monaten »Entzug« – ich bin im Auslandssemester in Spanien – frage ich in einem heruntergekommenen Antiquitätengeschäft in Sevilla den Verkäufer, ob ich auf dem Flügel spielen dürfe. »Ja!« Zum Glück bemerke ich erst zum Schluss, dass sich vor dem Schaufenster eine Traube von Menschen gesammelt hat, die mir zuhören.

Merle Hömberg, Cádiz, Spanien

 

Der Sommerengel

Juni. Ein Spargelessen zu dritt. Sie hatte den Tisch festlich gedeckt, ihr Mann die Kartoffeln gekocht, die Freundin den Spargel. Ihr Mann war heiter, prostete ihr zu, denn es war ihr Geburtstag. Da störte ein Anruf die friedliche Stimmung. Ein Theologiestudent bat sie, ihm zwei, drei Monate lang jeden Tag beim Übersetzen griechischer und lateinischer Texte zu helfen. Das Thema: Sterben, Tod, das Fortleben der Seele in Texten von Platon und Cicero. Texte, in die sie seit ihrem Studium nicht mehr hineingesehen hatte. Eigentlich hatte sie vor, in den nächsten Wochen und Monaten den Garten umzugestalten, einen Seerosenteich anzulegen, neue Rosen zu pflanzen, die Hecken zu schneiden. Draußen wollte sie sein von morgens bis abends, aber nicht sich mit Perioden und der Funktion von Nebensätzen in den beiden antiken Sprachen beschäftigen. Sie fragte ihren Mann um Rat. »Das machst du«, sagte er nur und fügte ein leises, eindringliches »bitte« hinzu. Sie sagte zu, obwohl sie sich innerlich sträubte. In der Nacht starb ihr Mann an einem Herzinfarkt. In seinem Arbeitszimmer. Als erfahrener Arzt, erfuhr sie einige Tage später von einem seiner Kollegen, hatte er die Vorzeichen am Tage ihres Geburtstags stoisch gelassen selbst diagnostiziert. Zwei Wochen später saß der Theologiestudent, »der Junge«, wie sie ihn von nun an nannte, ungezwungen im Schneidersitz in einem ihrer Sessel. Über ihm im Regal ein Foto ihres Mannes: in Ferienlaune, erholt, lachend. Fast sehnsüchtig erwartete sie die tägliche Anwesenheit des Jungen, während sie nach geeigneten Texten für den Unterricht suchte. Sie half dem Jungen bei seinen allmählich flüssiger werdenden Übersetzungen, ließ ihn die Gedanken der Philosophen interpretieren, entdeckte mit ihm Parallelstellen in der Bibel und bei den Kirchenvätern. Das jugendliche, fast aufmüpfige Gebaren des Studenten und seine fantasievollen Übersetzungsvorschläge brachten sie manchmal zusammen zum Lachen. Und das alles half ihr, nicht die Contenance zu verlieren. So durchlebte sie, nach fast fünfzigjähriger Ehe, die ersten Monate ihres Alleinseins. Dass der Junge vielleicht ein Engel war, der ihr eine Botschaft überbrachte, vielleicht sogar eine frohe, dachte sie bisweilen. Auch später noch und nicht nur zur Weihnachtszeit.

Ursula Schorsch, Berlin

 

Wiedergefunden: Der Wunschzettel


Im Nachlass meiner Mutter fand ich kürzlich diesen Wunschzettel. Ich hatte ihn 1957 als siebenjähriges Mädchen geschrieben, voller Hoffnung auf die Erfüllung meiner Wünsche. Kurz zuvor hatten wir den Zeichentrickfilm Susi und Strolch von Walt Disney im Kino gesehen, und ich hatte mich spontan in die struppige Figur des Strolch verliebt. Natürlich wollte ich einen solchen Hund »in echt« zu Hause haben, doch diesen Wunsch konnten mir die Eltern nicht erfüllen, da wir schon einen Boxer hatten. Dann sah ich im Schaufenster eines Spielwarengeschäftes den »Steiff-Struppi«, und der sollte es dann sein. Er stand am 24. Dezember 1957 stolz und schön, zusammen mit einer blond gelockten neuen Puppe namens Erika, unter dem Weihnachtsbaum.

Christa Fonfara-Post, Petroio, Italien

 

Zug um Zug

Ich bin wegen meiner Arbeit oft mit der Bahn unterwegs. Und ich liebe das Zugfahren, weil man dabei die schönsten Geschichten erlebt. Ich haben begonnen, sie zu sammeln. Zum Beispiel: An einem Sonntagabend auf dem Weg von Berlin nach Essen. Der Zug ist heillos überfüllt, ich muss stehen. Der Schaffner kommt. Ich zeige ihm meine Fahrkarte und frage, ob es irgendwo noch ein Plätzchen für mich gibt. Er zückt seinen Schreibblock, notiert etwas und drückt mir den Zettel in die Hand: »Geben Sie den meiner Kollegin in der ersten Klasse!«  Ich bedanke mich und mache mich auf den Weg. Die Schaffnerin in der ersten Klasse schmunzelt. Auf dem Zettel steht: »Liebe Frau Kollegin, bitte nimm diese junge Frau bis Essen bei Dir auf. Danke. Dein Klaus«. Eine Viertelstunde später kommt eine ältere Frau in das Abteil. Auch sie hat einen Zettel bei sich. Die Schaffnerin schmunzelt wieder und sagt: »Ach, der Klaus!«
Vor ein paar Wochen auf dem Weg von der Arbeit zurück nach Hause. Es war ein langer Tag, ich bin müde, und der Regionalexpress ist natürlich bis auf den letzten Platz besetzt.  Meine Laune ist nicht gerade die beste. Da kommt der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle. Er strahlt jeden Fahrgast an und sagt: »Guten Abend. Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Tag.« Mir geht es gleich viel, viel besser.
Heute auf dem Weg von Essen nach Berlin. Die Schaffnerin kontrolliert gerade meine Fahrkarte, als ein Mann an ihr vorbeimöchte. Er ist auf dem Weg zum Bordrestaurant. Sie blickt auf, strahlt ihn an und sagt: »Wurden Sie heute schon gedrückt?« Er stutzt einen Augenblick, lacht und sagt: »Nein, aber meine Frau da vorne hat die Fahrkarten.«

Anna-Lena Schneider, Essen