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Die Königskinder

(Nach der Volksballade »Es waren zwei Königskinder«)

Es waren zwei Königskinder,
die kannten einander nicht.
Sie konnten zusammen nicht kommen,
was für die Logik spricht.

Das Nönnlein frohlocket vergebens,
es schwimmt kein Königssohn.
Die Ironie des Lebens
spricht aller Liebe Hohn.

Fischer, Kerzen und Glocken,
sie bleiben ohne Sinn:
Zwei Königskinder locken
zum Schein nur: Simsalabim

Wen dies nun schier verwundert,
der versteht die Fabel nicht,
die uns so manches Jahrhundert
geführet hinters Licht.

Es waren zwei Königskinder –
Über den See huscht ein Gesponst.
Und wartet die Nonne noch immer,
ist alle Logik umsonst.

Lothar Rehfeldt, Lübeck

 

Der Stinker

(Nach Johann Wolfgang von Goethe, »Der Fischer«)

Der Motor rauscht’, der Motor schwoll,
Am Steuer saß der Mann,
Sah nach der Ampel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan:
Und wie er sitzt, und wie er lauscht,
Zum Himmel blickt empor,
Kommt aus dem Gehweg wie ein Geist
Ein fremdes Weib hervor.

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
Was pestest du die Luft
Mit deines Wagens grauem Dunst,
Mach ihn nur aus, du Schuft!
Ach wüsstest du, wie gut es ist
Für Umwelt und Natur,
Du stiegst heraus, so wie du bist,
Und gingst zu Fuß auf Tour.

Liebst du die grüne Wiese nicht,
Die Felder und das Meer?
Liebkost der Wind nicht dein Gesicht,
Erfrischt dir Geist und Herz?
Freut dich der blaue Himmel nicht,
Des Regens frisches Nass?
Lass ab von deiner Unvernunft
Und nimm den Fuß vom Gas!

Der Motor rauscht’, der Motor schwoll,
Es zuckt’ und ruckt’ sein Fuß;
Das Weib vom Gehweg, ist es toll,
Dass es ihn mahnen muss?
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war es schon geschehn:
Die Ampel schaltet schnell auf Grün,
Er ward nicht mehr gesehn.

Dorothee Kremer, Frankfurt am Main

 

Jetzt geht’s los!

(Nach Rainer Maria Rilke, „Herbsttag“)

Mensch, sieh dich an. Du bist ein Trauerkloß.
Rundum der vielen Völlereien Spuren,
Der Säufertouren Zeichen. Jetzt geht’s los!

Geh endlich in das Fitness-Studio rein;
Stell einmal ehrlich dich auf eine Waage,
Beginn den langen, schweren Marsch, verzage
Nicht! Quäle den Körper – er wird’s verzeih’n,
Wenn federleicht er bald, nicht tonnenschwer.

Wer jetzt nicht stemmt die bleiern-schwarzen Scheiben,
Wird schwabblig, fett und unansehnlich bleiben.
Ein schlaffer Schwächling – statt ein starker Bär,
Nach dem die Frau’n bewundernd sich die Augen reiben.

Kurt Wagner, Bonn

 

Ich weiß nicht …

(Nach Heinrich Heine, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“)

Ich weiß nicht, was soll ich hier deuten
Den alten Hölderlin;
Mit Sprachtabellen arbeiten,
Erkennen muss ich den Sinn!

Der Frust ist groß und es dunkelt,
Ich sitze bei Lampenschein;
Bei Facebook die Meute schon munkelt:
Hyperion kriegst du nicht klein.

Die brave Deutschschülerin sitzet
Mit wirrem, zerrauftem Haar;
Über Periphasen und Jamben sie schwitzet,
Und Chiasmen quälen sie gar.

Sie zähmt Daktylogramme
Und ringt mit dem Binnenreim;
So langsam entschlüsselt die Dame
Die Metrik im Zeileinerlei.

Ach, wenn sie doch nur begriffe,
Was ich schon seit Langem seh’:
Was bleibt, ist ein Lyrikgerippe,
Reduziert auf aa und bb.

Ich glaub, Analysen verschlingen
Der Lyrik magischen Bann;
Gedichten die Norm aufzuzwingen
Hat niemals je Gutes getan.

Katharina Kanke, Marburg-Wehrda

(Diese Paraphrase, schreibt die 16-jährige Gymnasiastin, sei entstanden, als „ich nachts um 2 Uhr noch über meinen Deutsch-Hausaufgaben saß“ und „Hyperions Schicksalslied“ von Hölderlin interpretieren sollte)

 

Herbstrat

(Nach Rainer Maria Rilke, »Herbsttag«)

FRAU: es ist Zeit. Der Sommer war sehr nass.
Mit neuen Kleidern dreh jetzt deine Runden,
und in den Abendstunden habe Spaß.

Befiehl den öden Männern toll zu sein,
gib ihnen eine honigsüße Gabe,
dränge sie in dein warmes Bett und labe
an ihren Küssen dich und nenn sie dein.

Wer jetzt ’nen Hans hat, braucht den Franz nicht

mehr.

Wer jetzt allein ist, wirds nicht lange bleiben,
wird lieben, lachen und sich einverleiben
das pralle Leben und – das ist nicht schwer –
des Nachts es wild und ungezügelt treiben.

Katharina Böttcher und Juliane Fleddermann, Hamburg

 

Krank in Venedig

(Nach Karl August von Platen, „Wie lieblich ist’s, wenn sich der Tag verkühlet“)

Wie scheußlich ist’s, wenn sich der Mensch verkühlet,
Besonders dort, wo Schiff und Gondel schweben,
Wo die Lagune, ruhig, spiegeleben,
In sich verfließt, Venedig sanft umspület!

Sein Inn’res darbt im Fieber, und er fühlet
Sich schlapp, der Mensch, wo nach den Wolken streben
Palast und Kirche, wo ein lautes Leben
Auf allen Stufen des Rialto wühlet.

Ein frohes Völkchen lieber Müßiggänger,
Es schwärmt umher und lässt durch nichts sich stören;
Ihn stört die Nase ohne Tropfenfänger.

Des Abends sammelt sich’s zu ganzen Chören,
Denn auf dem Markusplatz gibt’s Tanz und Sänger;
Der kranke Mensch will nichts mehr sehn und hören.

Christian Golusda, Frankfurt am Main

 

Herbsttag

(Nach Rainer Maria Rilke)

Herr, es ist Zeit, das Leben wird sehr lang,
Da viele Rentner über neunzig werden;
Wie lang, oh Herr, geht das noch gut auf Erden?
Bei dieser Frage wird mir angst und bang.

Befiehl den Kindeskindern Fruchtbarkeit,
Nur so lässt sich die Rechnung noch bezahlen,
Da helfen auch nicht neue Bundeswahlen – da
Kommt kein Rat, kommt auch nicht mit der Zeit.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr,
Der Zukunftsrentner kann sich das nicht leisten,
Das trifft nicht wenige, das trifft die meisten;
Wir altern ohne Qualitätsgewähr.

Die Medizin kann zwar mit Fortschritt prahlen,
Doch frag ich: Wer, oh Herr, soll das bezahlen?

Brigitta Weiss, Bad Lauterberg

 

Wehe der Geliebten!

(Nach Johann Wolfgang von Goethe, »Nähe des Geliebten«)

Ich dächt gern dein, wenn mein Gedächtnis immer
Wär gut intakt;
Doch meistens funktioniert es nimmer.
Das ist vertrackt.
Ich seh dich nicht, die stets mit strengem Willen
Bei mir nur steht;
Das liegt an meinen schlechten Fielmann-Brillen,
Die sind verdreht.
Ich hör dich nicht, die mich mit viel Gerede
Andauernd plagt;
Das liegt an meinem alten Hörgeräte,
Das stets versagt.
Doch lieb ich dich; ich dachte schon, das gibt sich.
Ich bin dir nah!
Wir feiern heut und warten nicht auf siebzig,
Bist du nur da!

Dietrich Roßbach, Kummerfeld

 

Der Schwimmer

(Nach Johann Wolfgang von Goethe, »Lied des Türmers«)
Zum Schwimmen geboren,
Zum Kraulen bestellt,
Dem Schwimmen verschworen,
Gefällt mir die Welt.
Da stehn sie in Latschen,
Am Rand in der Näh’,
Die Rentner – sie tratschen,
Das tut mir nicht weh!
Die Kinder, sie springen
Mir schier auf den Kopf,
Die Knie angewinkelt,
So machen sie: Ploff!
Doch seh’ ich in allen
Die nette Begier,
Das Nass zu benutzen,
Wer wär nicht dafür?
Ihr glücklichen Schwimmer,
Die Tage verwehn,
Bald werden wir seufzen:
Es war doch so schön!
Sibylle Korber, Odenthal

 

Rilke golft

(Nach Rainer Maria Rilke, »Herbst«)

DIE Bälle fallen, fallen oft von weit,
als golften auf den Plätzen gute Götter;
sie fallen mit entschleunigtem Getue.

Und an den Löchern rollen sie zur Ruhe
von fernen Schlägen hin zur Einsamkeit.

Sie alle fallen. Dieser Ball da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist mancher , welcher dieses Fallen
für seinen einzgen Lebensinhalt hält.

Michael Kopetz, Völkermarkt, Österreich