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Im Winter

nach Johann Wolfgang von Goethe, „Erlkönig“

Wer schlittert so flott über Graupel und Eis?
Es ist die Oma, die vom Räumen nichts weiß.
Am Morgen noch fröhlich aufgewacht –
jetzt liegt alles verschneit. Alles weiß über Nacht!

„Ja Oma, was greifst du den Stock denn so fest?“
„So hoch der Schnee, Sohn, das gibt mir den Rest.
Die Wege so glatt, ich komm nicht hinaus!“
„Ach Oma, dann geh doch zurück ins Haus!“

„Mein Sohn, mein Sohn, ich brauch doch zu essen,
die Räumdienste alle, die kannste vergessen.“
„Ach Oma, bleib ruhig, wart einfach ab,
zum Einkaufen ist mir die Zeit zu knapp.“

Die zittrige Hand fasst die Schneeschaufel schwer,
die Oma, sie findet den Weg nicht mehr.
Es rutscht das Bein, der Boden bebt,
Rollator zerbrochen, Großmutter lebt.

Heike Hagemeister, Heroldsbach, Oberfranken

 

Ans Kap

Nach Theodor Storm „Meeresstrand“

Ans Kap nun fliegt Karl Theodor
Und Klarheit bricht herein
Über Gorch Focks feuchte Wanten
Spiegelt der Abendschein.

Graue Kadetten huschen
über das Deck hin und her.
„Der Minister – Sollen wir kuschen
Im Nebel über dem Meer ?“

Wir hören schon Kapitän Schatzens
Rauen Kommandoton.
„Soldaten, hoch in die Masten!“
So war es immer schon.

Und also rauf in die Rahen
KLettert ein jeder im Wind.
Und als sie KT unten sahen:
„Uns nach, rauf hier geschwind“

Hans-Peter Strenge, Hamburg

 

Die Erlkönigin

Nach dem „Erlkönig“ von Goethe

Wer fährt so spät noch durch die Nacht?
Es ist Frau Aigner, die darüber wacht
daß alle im Land dioxinfrei essen,
doch Niedersachsen hat wohl was vergessen.

„Der Betrieb in Damme, warum sagtet Ihr’s nicht?“ –
„Wir haben’s im Griff – lest doch den Bericht!“
Das Ganze hat einen langen Schweif,
10 Tage kontrollos im Nebelstreif.

Frau Aigner, Frau Aigner, seh’n Sie nicht dort
einen hellen Fleck am trüben Ort?
Denn immer nur MEHR bei noch geringeren Preisen,
da kann von uns keiner mehr ordentlich speisen.

Dem Verbraucher grauset’s. Er ist zu geschwind
beim Deuten mit Fingern auf’s böse Gesind.
Wir zahlen zu wenig – und das ohne Not!
Guter Preis + Kontrolle – und’s Gesindel wär tot!

Gaby Rottler, Weißenburg

 

Karriereherbst

nach Rainer Maria Rilke, „Herbsttag“

GUIDO: ’s ist Zeit. Dein Wahlsieg war sehr groß.
Nun reißt das Volk die FDP in Stücke.
Geh von der Brücke! Lass das Ruder los.

Befiehl den Steuern, sich von selbst zu senken.
„Denn Leistung muss sich wieder lohnen“,
mit solchen Sprüchen sollst du uns verschonen.
Nun geh! Der Wähler wird dir nichts mehr schenken.

Wer jetzt ein Amt hat, wird es bald verlieren.
Vorbei die Foren und die großen Macken.
Auch wird ein Lorbeerkranz dich niemals zieren.
Es ist nicht gut, mit stets perfekt geknöpften Jacken
substanz- und inhaltslos nach Macht zu gieren.

Hans Beck, Tervuren, Belgien

 

Kunstwerk

(nach Joseph von Eichendorff, „Mondnacht“)

Es war, als hätt ’ne Muse
Den Maler heiß geküsst,
Dass er in bunten Farben
Die Leinwand wild bespritzt.

Ein Kunstwerk wird geboren
Aus leuchtend Farbenklang,
Es gilt als gutes Omen,
Der Szene Lobgesang.

Und ist auch nicht bewiesen,
Dass Kunst ziert das Papier,
Die Presse hat’s geschrieben,
Und wir, wir glauben ihr.

Jutta Wagner, Köln-Porz

 

Abschiedstag

(nach Rainer Maria Rilke, Herbsttag)

VERDAMMT: Mir reicht’s! Mein Ärger ist sehr groß.
Nimm deine Socken von hier weg,
und von mei’m Körper lass die Pfoten bloß.

Befiehl dir endlich mal, mit Hirn zu sein;
verordne dir vernünftigere Tage.
Dränge dich zur Entwicklung hin und klage
nicht dauernd über mich. Was fällt dir ein!

Es war noch nie o.k. und wird’s wohl auch nicht mehr.
Ich will allein sein und es lange bleiben,
will flirten, lachen, lange Briefe schreiben,
doch nicht an dich. Da bin ich leer.
Viel lieber will ich’s anderweitig treiben.

Agnes Klupp, Weiden

 

Der Zeugnisschreiber

(nach Rainer Maria Rilke, Der Panther)

SEIN Blick ist vom Vergeben vieler Noten
so müd geworden, dass ihn nichts mehr quält.
Ihm ist’s, als ob es nur noch Kompetenzen gäbe
und ohne das „Verhalten“ keine Welt.

Der harte Schlag gewaltig kleiner Tasten,
der sich im allerkleinsten Laptop regt,
ist wie ein Tanz um erdenschwere Lasten,
in der ganz fest des Lehrers Note steht.

Nur manchmal schiebt sein Glaube an die Liebe
auch Kompetenzen weg – Dann geht ein Bild hinein,
Rührt an das vom Kind ihm anvertraute Leben –
und hört trotz Noten niemals auf zu sein.

Rainer Schlundt, Erfurt

 

Weihnachten

Neues Jahr, neue Gedicht­form: Nach den Haikus starten wir jetzt mit Parodien auf klassische Lyrik. Einzige Bedingung: selbst geschrieben und nicht länger als sechzehn Zeilen! Diesmal lesen Sie eine zeitgemäße Neufassung des Eichendorff-Gedichtes „Weihnachten“.

Markt und Straßen, volle Gassen,
Hell erleuchtet jedes Haus,
Hektisch strömen Menschenmassen,
Nirgends sieht es festlich aus.

All die Fenster haben Frauen
Oder Männer reich bestückt,
Nicht, damit die Kinder schauen,
Nein, damit der Umsatz glückt!

Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins freie Feld,
Denke traurig mit Bedauern,
Wie so arm doch ist die Welt!

Taub, wenn Weihnachtsglocken klingen,
Blind für gnadenreiche Zeit,
Stumm für wunderbares Singen –
Nur wirklich reich an Einsamkeit!

Sigrid Heuer, Vallendar bei Koblenz