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Was mein Leben reicher macht

Wie früher, doch diesmal ohne Zeitdruck, sitze ich im Lesesaal der großen Bibliothek und schaue erwartungsvoll der Bibliothekarin zu, wie sie mir mit weißen Handschuhen große, in Leder gebundene Folianten vorlegt. Dann kann ich in uralte Texte eintauchen, und ich mache mich in aller Ruhe auf die Suche nach einem Konjunktiv, der mir damals in der Eile entgangen sein muss.

Knud Willenberg, Nürnberg

 

Was mein Leben reicher macht

Meine Tochter, 16, ist momentan für drei Wochen zum Schüleraustausch in Delhi. Sorgen kommen auf, was dem Kind in diesem fremden Land so alles zustoßen könnte: Gefahren wie Linksverkehr, Moskitos, Sonnenstich, Durchfall … Doch dann kommt eine E-Mail: »Ich habe in meiner indischen Familie als Gast das beste Bett, teile es aber mit meiner indischen Mami. Sie sagt, sie dankt Gott, dass er ihr für drei Wochen eine Tochter geschenkt hat.«

Sylvia Jung, Ingolstadt

 

Was mein Leben reicher macht

Mein Freund, mit dem ich seit paarundzwanzig Jahren verheiratet bin, hat mir siebzehn Jahre lang das Erbstück seines Urgroßvaters zum Lernen und Üben zur Verfügung gestellt: eine alte Geige. Inzwischen hat er mir mit viel Arbeit und Geschick aus einem kümmerlichen Stück Sperrmüll die wohlklingendste und schönste Geige hergerichtet, die ich je in der Hand hatte: ein Corona-Modell aus der Schuster-Manufaktur in Markneukirchen. Jedes Menuett ein dankbares Freudentänzchen!

Heidi Schmidt, Kleingladenbach

 

Was mein Leben reicher macht

Meine hochbetagte, demenzkranke Mutter im Pflegeheim zu besuchen, mit ihr in der Sonne zu sitzen, ihr kleine Begebenheiten zu erzählen, wohl wissend, dass sie nicht antworten wird. Ihr Essen zu reichen, langsam und geduldig. Sie lächelt und bedankt sich. Rollentausch! Ein Herz wird nicht dement.

Martina Drumm, Kaiserslautern

 

Was mein Leben reicher macht

Catherine und Vassily, die uns, nachdem wir uns bei einer Wanderung auf Chalkidiki verirrt hatten, so freundlich ins nächste Städtchen fuhren. Die beiden Busfahrer, die meinen Geldbeutel fanden und ihn mir nachts, bei ihrer Rückfahrt von Saloniki wieder aushändigten.

Marie-Luise Huber, Unterankenreute, Baden-Württemberg

 

Was mein Leben reicher macht

Seit über zwanzig Jahren kann ich zum Hauptbahnhof gehen und mir eine Fahrkarte kaufen – nach Hannover oder an den Tegernsee, um meine Familie zu besuchen. Und keiner will von mir etwas anderes als mein Geld: keine stasigenehmigten Visa, keine Genehmigung des Arbeitgebers … Gern fahre ich auch
wieder nach Hause, denn ich weiß genau: Falls ich nächste Woche nach London oder nach Lissabon fahren möchte, will keiner … Siehe oben!

Elke-Maria Parthier, Halle (Saale)

 

Was mein Leben reicher macht

Voller Vorfreude auf den Urlaub, aber auch mit leichtem Unbehagen stieg ich in diesem Sommer in den Nachtzug von München nach Venedig.  War ich vielleicht etwas zu mutig, allein mit dem Zug meinem Mann vorauszufahren? Wer würde mit mir im Abteil reisen? Wie würde ich die Nacht im Sitzen überstehen? Als erstes stieg ein junges Ehepaar aus den USA ein. Wenig später kam noch ein  junger Mann aus Australien dazu. Wir kamen sofort ins Gespräch, und es entwickelte sich ein lebhafter Austausch über das Leben in Arizona, das Studentenleben in Sydney und meine eigenen Kindheitserfahrungen im ehemals geteilten Berlin. An Schlafen war nicht mehr zu denken und scheinbar im Nu fuhren wir im Bahnhof S. Lucia/ Venedig ein. Wir hatten, auch zum großen Erstaunen der Schaffner, die ganze Nacht geredet und gelacht! Danke Rick, Keira und Matt, dass ihr mich als Fünfzigjährige mühelos in alte Interrail-Zeiten versetzt habt und mir den Eindruck vermittelt habt, dass ich mich noch auf Englisch verständigen kann! Die Erinnerung daran macht mein Leben in diesen  Herbsttagen unbedingt reicher.

Martina Blumenstock, Weisendorf

 

Was mein Leben reicher macht

Fünf Tage lang haben wir ihn verzweifelt gesucht. Dann konnten wir unseren Kater Nemo endlich orten: Ein leises Miauen hinter der Badewannenverkleidung gab den Hinweis. Bei Handwerksarbeiten war er unbemerkt hinter die Verkleidung gelangt und eingemauert worden. Niemand hatte an so was gedacht! Unsere Freude und Erleichterung war riesengroß und nicht ohne Erschütterung. Nemo nahm es eher gelassen.

Rita Herber, Bad Camber

 

Was mein Leben reicher macht

Als ich alter Mann neulich nicht so recht auf mein Fahrrad kam, meinte ein kleines Mädchen: »Onkel, besser, du gehst zu Fuß!« Zum Niederknien: So viel Weisheit und Fürsorge im Zuspruch eines Kindes! Sei bedankt, du kleine Ahnungsvolle!

Lothar Rehfeldt, Lübeck