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Entschleunigung

Ich hatte an diesem Tag bereits mehrere dienstliche Termine hinter mir und war in Gedanken bereits bei meiner nächsten Besprechung, die in einem Seniorenpflegeheim stattfinden sollte. Da ich etwas spät dran war, betrat ich in eiligen Schritten die Einrichtung. Auf dem Weg durch das Haus begegnete ich einem älteren Herrn, den ich im Vorbeieilen begrüßte. Er erwiderte meinen Gruß, indem er versuchte mir zu winken, was ihm sichtlich schwer fiel, und mit einem Strahlen im Gesicht, das meinen Schritt augenblicklich verlangsamte. Mit einem Mal war meine Eile vergessen und nur noch das Hier und Jetzt wichtig. Mit einem breiten Lächeln erreichte ich den Besprechungsraum. Dieses Lächeln gab mir Kraft für den ganzen Tag und auch Tage später denke ich noch gern an diesen kurzen Augenblick zurück. Einen großen Dank dafür.

René Biela, Chemnitz

 

Kraniche unterwegs

Freitag nachmittag, sonnig und klar, ich putze bei laufendender Musik. Plötzlich höre ich etwas und gehe auf meinen Balkon. Hunderte von Kranichen ziehen in den nächsten Stunden über mein Haus, ihre Ankunft mit Schreien ankündigend. Vor dem Haus steht ein Mann mit seinem Enkel, der sich gar nicht beruhigen kann.“Opa, da sind noch viele, Millionen!“ Man kann sogar die Federzeichnung sehen. Jedes Jahr der gleiche Weg, sie wechseln sich an der Spitze ab. Was für ein Glück, dass ich zu Hause war und der Himmel so blau strahlt. Dieses Naturschauspiel lässt mich den Rest des Tages lächeln. Jedes Jahr erwarte ich die Kraniche und bewundere ihre Formationen, verfolge sie mit meinem Blick als untrügliches Zeichen des Winters. Und freue mich auf den Frühling.

Tina Eichhöfer, Limburg

 

Espresso?

Jeden Morgen die Frage meines Chefs: „Möchten Sie auch einen Espresso?“ Ja, ich möchte. Mein Chef kocht für mich mit und serviert mir den Espresso mit zwei kleinen Pralinés…

Barbara Frisch, Bad Neuenahr-Ahrweiler

 

Ich lebe!

Ich laufe im Wald und nehme die Natur mit allen Sinnen wahr. Schlagartig wird mir wieder mal bewusst: Ich lebe und es geht mir gut. Die Welt ist so schön. Tiefes Glück und Dankbarkeit durchströmen mich. Diese neue Einstellung zum Leben habe ich meiner Krebserkrankung vor zwei Jahren zu verdanken.

Heidi Gögelein, Alzenau

 

Begegnung in Hanoi

Als ich durch Hanoi schlenderte, fiel mir an einem See ein alter Mann auf. Er hatte ein riesiges Palmenblatt in der Hand und wirkte etwas durcheinander. Als er damit im Wasser herumstocherte, musste ich mit dem Kopf schütteln und dachte bereits an einen verwirrten Alten, als ich erkannte, dass er versuchte, seinen Hut aus dem Wasser zu fischen. Ich legte mich auf den Boden und versuchte, den Hut zu schnappen. Rutschte immer weiter an der steinernen Böschung ab, dabei schrammte ich mir Hose und Hand auf. Als ich den Hut endlich greifen konnte, zog mich der alte Mann an der Schulter bis ich wieder an der Promenade stand. Der Mann klopfte mir auf die Schulter und ich ging weiter. Einige Augenblicke später fuhr ein alter Vietnamese auf seinem Fahrrad an mir vorbei. Stolz, der Rücken kerzengerade. Er schaute mich an und lächelte, während er mit dem Kopf unaufhörlich nickte. Auch ohne Worte verstehe ich ihn – und freue mich für ihn und für mich.

Olav Weidemann, Hanoi

 

Post von nebenan

Die Postkarten, die mein Freund mir schickt – von Ausstellungen und von Städten, die wir zusammen erlebt haben oder noch besuchen wollen. Er schreibt sie mir regelmäßig, weil er weiß, wie sehr ich mich über Post freue – auch wenn wir in derselben Stadt wohnen!

Sandra Pulina Borghese, Münster

 

Ode an Paul den Kraken

Pulpo Paul ist nun verschieden
R.I.P.  –  ruhe in Frieden

du hast recht vorhergesehen
was bei der WM geschehen
wer wird Sieger, wer wird Zweiter
keiner war je noch gescheiter
keiner sonst konnte es wissen
der in’s Muschelfleisch gebissen

deinem Körper, obwohl weich
setzt man nun ein Denkmal gleich

Kopffüßler, nur Kopf und Beine
ohne dich so sehr alleine
dass die Weissagung versagt
wenn nach Kopfbahnhof gefragt
wer gewinnt die Kesselschlacht

gib im Jenseits
auf dich 8

 

Was mein Leben reicher macht

Im Herbst von Apricale aus mit Freunden Wanderungen in Ligurien unternehmen – auf dem Gipfel den Blick auf die Schnee bedeckten Seealpen auf der einen Seite und das Mittelmeer auf der anderen Seite haben und anschließend in einer kleinen Trattoria im T-Shirt auf der Terrasse die Pasta der Nonna essen.

Gerd Nieschalk, Heidelberg

 

Wiedersehen mit Yasmin und Schmendrik

Der Moment, wenn meine Yasmin am Freitagabend nach vier, fünf Wochen Trennung und fünf Stunden Bahnfahrt von Bonn in Stendal ankommt. Wenn ich mich erwartungsvoll nach allen Seiten umsehe, weil ich nie weiß, in welchem Waggon sie sitzt. Wenn ich sie dann entdecke, in der rechten Hand die Transportbox mit unserem Kater Schmendrik, in der anderen die Reisetasche. Lächeln, Freude… Schön, dass es dich gibt!

Sören Ergang, Stendal

 

Literaturbegeisterung

Ich arbeite ehrenamtlich mit bei der Schulaufgabenhilfe in der Sultan-Ahmed-Moschee in Hamburg-Billstedt, in die muslimische Kinder im Alter von 13 bis 18 Jahre kommen. Ein Schüler, 14 Jahre alt, bittet um meine Hilfe. Er soll eine Strophe der Bürgschaft von Friedrich Schiller auswendig lernen. Die Ballade hat 20 Strophen, so daß jeder Schüler in seiner Klasse eine Strophe aufsagen muß. Wir lernen die Strophe, es klappt prima, sogar mit der richtigen Betonung. Danach bitte ich ihn, mir das Gedicht doch einmal ganz vorzulesen. Er tut es gern und erklärt mir bei jeder Strophe, wie die Lehrerin ihren Schülern dies Gedicht nahe gebracht hat. Ich bin hellauf begeistert und einfach dankbar, daß es Lehrer gibt, die sich die Mühe machen, ihren Schülern Literatur auf diese Weise vermitteln.

Iris Witzke, Hamburg